Das Lied der Luege
plötzlich etwas Wohlwollendes –, »hängt ganz von Ihnen ab. Wenn Sie schön brav sind und nicht daran denken, davonzulaufen, werde ich Mrs. Windle bitten, mit Ihnen am Abend einen Spaziergang im Garten zu machen. Es wäre jedoch äußerst würdelos, wenn ich Sie dabei fesseln müsste, oder? Das kann nicht in unser beiderseitigem Interesse sein.«
Susan wusste, wann sie verloren hatte. Sie hatte sich auf dieses perfide Spiel eingelassen, um ihr ungewolltes Kind loszuwerden und damit sie und Jimmy ein neues Leben beginnen konnten. Niemand hatte sie dazu gezwungen, sich in Lady Lavinias Hände zu begeben.
»Sie haben gewonnen«, sagte sie leise. »Eine Bitte habe ich dennoch – Sie haben hier doch bestimmt eine Bibliothek, nicht wahr? Ich möchte mir Bücher ausleihen.«
»Bücher?« Überrascht hob Lavinia eine Augenbraue. »Ich glaube nicht, dass die Lektüre, die wir auf Sumerhays haben, Ihrem Niveau entspricht, denn es handelt sich nicht um Romane, sondern um anspruchsvolle Literatur, geschichtliche und wissenschaftliche Bände.«
»Genau das, was ich gerne lese.« Susan schluckte zwar eine heftige Erwiderung auf Lavinias Überheblichkeit hinunter, über ihrer Nasenwurzel bildete sich jedoch eine Unmutsfalte.
»Also gut, Mrs. Windle wird Ihnen nachher ein paar Bücher bringen. Ansonsten haben wir uns jetzt verstanden, ja?«
Susan nickte, ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie hielt die Tränen jedoch so lange zurück, bis Lavinia das Zimmer verlassen hatte – nicht ohne die Tür hinter sich zu verschließen –, dann warf sie sich aufs Bett und weinte. Es waren Tränen des Zorns und der Ohnmacht, gleichzeitig wusste Susan, dass sie sich die Suppe selbst eingebrockt hatte. Nun würde sie diese auch bis zum bitteren Ende auslöffeln müssen.
Es war unvermeidlich, dass Susan in ihrer Einsamkeit immer wieder an Stephen Polkinghorn dachte. Lavinia hatte zwar gesagt, er sei bei dem Unfall glimpflich davongekommen, trotzdem machte sich Susan Sorgen um ihn. In der Abgeschiedenheit des Dachzimmers eingeschlossen, bekam sie nicht mit, wie Stephen eines Nachmittags Sumerhays aufsuchte. Lavinia befand sich allein im Haus, die Windles waren gemeinsam nach Looe zum Einkaufen gefahren. Lavinia saß in ihrem kleinen Arbeitszimmer im Erdgeschoss, als es an der Vordertür klopfte.
»Was wollen Sie denn hier?«, sagte Lavinia unfreundlich, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. »Sie sind in diesem Haus nicht willkommen.«
Stephen Polkinghorn wirkte ehrlich zerknirscht.
»Der Unfall tut mir furchtbar leid, Lady Lavinia. Glauben Sie mir bitte, dass ich keine Schuld daran trage. Ich hoffe, Ihrer Bekannten geht es gut?«
»Meiner Bekannten?« Lavinia blieb im Türrahmen stehen. Sie hatte keine Lust, Stephen hereinzubitten, und hoffte, er würde wieder gehen.
»Susan Hexton, Mylady. Ich nehme an, sie befindet sich in Ihrem Haus.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?« Lavinia verbarg ihr Erschrecken. »Wieso sollte ich diese Frau auf Sumerhays beherbergen?«
Stephen bemerkte das nervöse Flattern von Lavinias Augenlidern. Bevor sie reagieren konnte, drängte er sich an ihr vorbei in die Halle und schloss die Tür hinter sich.
»Kein Mensch will mir verraten, wie es Susan geht oder wo sie sich befindet.« Stephen sah sich in der Halle um, seine Stimme klang entschlossen. »Ich war bereits auf der Park Farm bei den Nankerris. Bevor mir diese alte Hebamme jedoch die Tür vor der Nase zugeschlagen hat, sagte sie mir, Susan wäre nach London abgereist.«
Lavinia atmete auf. Sie war Caja für diese schlagfertige Auskunft dankbar.
»Ja, und? Was ist daran nicht zu verstehen? Nach dem Unfall, bei dem Mrs. Hexton glücklicherweise keine schwerwiegenden Verletzungen davongetragen hat, wollte sie wieder nach Hause.«
»Das, meine Liebe, glaube ich nicht.« Stephen Polkinghorn trat so dicht an Lavinia heran, dass diese zurückwich. Was wollte er von ihr? Sie war mit ihm allein im Haus – von Susan abgesehen, die jedoch im dritten Stock ihre Schreie, wenn es nötig sein sollte zu schreien, weder hören noch ihr zu Hilfe eilen konnte –, daher musste sie sehen, dass sie Stephen so schnell wie möglich wieder loswurde.
»Sir Polkinghorn«, sagte Lavinia und wählte die offizielle Anrede, »ich verstehe Ihr Interesse an Mrs. Hexton, aber ich kann Ihnen versichern, dass es ihr den Umständen entsprechend gutgeht und dass sie zu ihrer Familie nach London zurückgekehrt ist. Gleich am Tag nach dem Unfall nahm sie den
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