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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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mehr Spielzeug kaufen. Er sollte alles bekommen, was er sich wünschte. Als Erstes jedoch wollte sie sich eine kleine Wohnung suchen, denn das alte, muffige Mietshaus in der Wapping Street war kein Ort für den Jungen, auch sie selbst wollte niemals wieder in einer solchen Umgebung wohnen.
    Susan verließ den Zug am Bahnhof Charing Cross. Während der ganzen Fahrt hatte sie die kleine Reisetasche stets fest umklammert und sie keinen Moment aus den Augen gelassen. Ihr Leben befand sich in dieser Tasche, und sie musste Lavinia recht geben – es war wahrscheinlich wirklich besser, das Geld zu einer Bank zu bringen. Da Susan mit Banken aber bisher nichts zu tun gehabt hatte, eine solche nie jemals betreten hatte, traute sie diesen Institutionen nicht. Nun, sie würde sich sofort ein Zimmer für den Übergang suchen, Jimmy zu sich holen und dann nachdenken, wie es weitergehen sollte.
    Nach den milden Temperaturen Cornwalls, wo sich der Frühling bereits in seiner ganzen Pracht entfaltet hatte, fröstelte Susan in dem trüben und regnerischen Wetter Londons. Es erinnerte sie an den Tag im vergangenen November, als sie Lavinia Callington aus den Fluten der Themse rettete. Dieser Abend hatte ihr Leben verändert. Was, wenn sie nur zehn Minuten früher oder später an der Stelle vorbeigegangen wäre? Sie war nicht gläubig und glaubte auch nicht, dass alles von einem Schicksal, auf das niemand Einfluss hatte, bestimmt wurde, dennoch war die Begegnung mit der vermögenden Dame ein so großer Zufall gewesen, wie es ihn vielleicht nur ein Mal im Leben gab.
    Vom Bahnhof aus nahm Susan eine Mietdroschke, in der sie ihr Gepäck verstauen konnte, und ließ sich nach Fulham kutschieren. Das war eine der besseren Londoner Gegenden, in der viele Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte lebten, aber kaum Adlige. An einem dreistöckigen Haus mit hellem Verputz las Susan das Schild
Zimmer zu vermieten
und bat den Kutscher, anzuhalten. Sie bezahlte die Fahrt, und der Kutscher trug ihr noch das Gepäck vor die Haustür, bevor er davonfuhr. Zwanzig Minuten später war sie mit der Hauseigentümerin und Wirtin handelseinig. Susan gab sich als Witwe aus, die den Winter auf dem Land verbracht hatte und in dieser Gegend nun auf der Suche nach einem Geschäft und einer kleinen Wohnung war.
    »Wie tragisch!«, rief Mrs. Oxcombe, die Wirtin, und rang ihre Hände, die ebenso fleischig wie ihr ganzer Körper waren. »So jung und schon Witwe! Jaja, das Schicksal ist manchmal grausam. Wie ist Ihr Mann denn gestorben?«
    Susan wich Mrs. Oxcombes neugierigem Blick aus, als sie leise antwortete: »Es war eine verschleppte Lungenentzündung. Es liegt erst wenige Monate zurück, Sie verstehen, dass ich darüber nicht sprechen möchte?«
    Im selben Moment, als Susan dies ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte, denn sie trug ein hellblaues Kleid mit einem zartgelben Kragen und einen farblich passenden Hut. Das war nun wahrlich keine angemessene Kleidung für eine Witwe, die sich noch im Trauerjahr befand. Mrs. Oxcombe runzelte auch prompt die Stirn und musterte Susan mit einem skeptischen Blick von oben bis unten.
    »So, erst einige Monate? Nun ja … die Zeiten ändern sich eben. Als mein Gatte damals starb, Gott hab ihn selig, legte ich die Trauerkleidung für drei Jahre nicht ab. Ihr jungen Leute seht das heute eben anders, aber mein Vater … er war Geistlicher, müssen Sie wissen … achtete stets auf die Einhaltung der Konventionen.«
    Susan ging auf Mrs. Oxcombes Ausführungen nicht ein, sondern sagte: »Wenn ich jetzt vielleicht das Zimmer sehen könnte?«
    »Jaja, selbstverständlich.« Susan folgte der Wirtin die Treppe hinauf, dabei sprach Mrs. Oxcombe weiter: »Nicht, dass ich es nötig hätte, zu vermieten. Nein, weiß Gott nicht, denn mein seliger Gatte hat mir ein kleines Auskommen hinterlassen und eben dieses Haus hier. Aber es ist für mich allein doch zu groß, und ich habe gerne Menschen um mich herum.« Auf dem ersten Absatz wandte sie sich zu Susan um. »Leben Ihre Verwandten auch in London?«
    Susan verneinte und sagte, sie stünde ganz allein auf der Welt. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie sie der Wirtin erklären sollte, wenn sie Jimmy zu sich holte, da sie dann ohnehin so schnell wie möglich sich eine Wohnung suchen wollte. Dann endlich hatten sie das zu vermietende Zimmer erreicht. Es war lang und schmal, nicht sehr groß, aber zweckmäßig und gemütlich eingerichtet, außerdem ruhig,

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