Das Lied der Luege
konnte. Schnell wandte sie den Blick ab und fragte: »Was führt Sie nach London?«
»Ach, das Landleben war mir zu langweilig. Hin und wieder zieht es mich in die Stadt, um etwas Zerstreuung zu finden. Aber zu Ihnen, Susan, wie geht es Ihnen und Ihrem Kind? Was ist es denn – ein Junge oder ein Mädchen?«
Ein eisiger Schrecken durchfuhr Susan und trübte die Freude über das Wiedersehen mit Stephen. Natürlich, er musste davon ausgehen, dass sie ein gesundes Kind geboren hatte, nachdem sie ihm eben gesagt hatte, dass der Autounfall keine Folgen gehabt hatte.
»Ich habe mein Kind verloren«, sagte sie leise und senkte den Blick. Das war nicht gelogen, denn sie hatte sowohl Anabell wie auch Jimmy unwiderruflich verloren.
Seine Augen weiteten sich erschrocken.
»Wie furchtbar! Vorhin sagten Sie doch, dass der Unfall … ich meine …«
»Nein, nein«, beeilte sich Susan zu versichern, »das hatte nichts mit dem Unfall zu tun, es war wenige Wochen später. Im Februar wurde ich sehr krank … Typhus. Ich erholte mich zwar wieder, aber das Kind …«
»Ich verstehe.« Vertrauensvoll und tröstend nahm Stephen Susans Hand und drückte sie, gleichgültig, was die anderen Gäste des Cafés von dieser intimen Geste halten würden. »Als Sie nach dem Unfall so plötzlich verschwunden waren, habe ich mir große Sorgen gemacht. Ich sprach auf der Park Farm vor, aber diese Caja Nankerris hat ja Haare auf den Zähnen. Sie meinte, ich solle Sie in Ruhe lassen, ich hätte genügend Unglück über Sie gebracht. Dann warf sie mich aus dem Haus, ohne mir sagen zu wollen, wo ich Sie finden kann. Auf Sumerhays wurde mir die gleiche Abfuhr erteilt.«
»Sie waren auf Sumerhays?« Susans Augen weiteten sich, dann hatte sie sich aber schnell wieder im Griff. »Warum haben Sie dort nachgefragt?«
»Nun, ich dachte, Sie und Lady Lavinia wären befreundet, so erschien es mir naheliegend, dass man Sie dort aufgenommen und gepflegt hat, nachdem Sie das Cottage auf der Farm verlassen hatten.«
»Ich kehrte nach London zurück.« Leicht kam Susan diese Lüge über die Lippen. »Wie Sie selbst feststellten, waren die Nankerris nach dem Unfall wenig freundlich zu mir, so war es besser, ihre Gastfreundschaft nicht länger zu strapazieren.«
»Und Lady Lavinia?«, fragte Stephen. »Hat sie Sie einfach gehen lassen?«
»Wir waren nicht eng befreundet«, antwortete Susan ausweichend. »Es war nur eine vorübergehende kurze Sympathie, da wir uns beide in anderen Umständen befanden.«
»Sie wissen, dass Lady Lavinia ein Mädchen zur Welt gebracht hat?« Susan umklammerte ihre leere Kaffeetasse und hoffte, Stephen würde nicht bemerken, wie sehr ihre Hände zitterten. Sie mied seinen Blick, als er fortfuhr: »Ich glaube, der Viscount hoffte zwar auf einen Erben, aber es heißt, dass er seine Tochter vergöttert. Für nächsten Monat ist ein großes Tauffest auf Sumerhays geplant.«
»Sind Sie eingeladen?« Susans Stimme klang dünn, die Worte bereiteten ihr Mühe.
Stephen schüttelte den Kopf und lachte.
»Ich doch nicht! Die Familie Tredary verkehrt nicht mit den Polkinghorns, dazu ist mein Ruf viel zu schlecht.«
Es gelang Susan, sein Lächeln zu erwidern, dann schaute sie auf die Uhr, die in Form einer Brosche am Revers ihres Kleides befestigt war.
»Es wird Zeit für mich, zu gehen. Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen.« Susan meinte die Worte ehrlich. In der vergangenen Stunde hatte sie sich so lebendig gefühlt wie seit Wochen nicht mehr.
»Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«, fragte Stephen.
»Nein, warum?«
»Würden Sie mir die Ehre geben, mich ins Theater zu begleiten?«
Susans Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich an ihren gemeinsamen Theaterbesuch in Plymouth erinnerte.
»Hat Ihre Freundin Janna etwa endlich eine Rolle in London bekommen?«, fragte sie lachend.
»Du meine Güte, das möge Gott verhindern.« Stephen rollte mit den Augen und grinste. »Nein, ich habe Karten für das Gaiety ergattern können. Und jetzt raten Sie mal, wer dort heute Abend auftritt.«
»Ich bin sicher, Sie werden es mir gleich verraten.«
»Sarah Bernhardt«, erwiderte Stephen stolz. »Die Vorstellung ist seit Wochen ausverkauft, doch meine eigentliche … Begleitung hat mich versetzt, so dass ich nun eine Karte übrig habe.«
Susan erinnerte sich an den Namen Sarah Bernhardt und wie Stephen von dieser Schauspielerin geschwärmt hatte. Sie musste wirklich etwas ganz Besonderes sein, denn auch jetzt glänzten Stephens
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