Das Lied der Luege
sagte doch, dass die Vorstellung ausverkauft ist«, bemerkte Stephen und zwängte den Wagen in eine Lücke, die so schmal war, dass Susan befürchtete, er würde an einer Mauer hängenbleiben. Staunend betrachtete Susan die Leute. Der Kleidung nach zu urteilen, kamen sie aus allen Gesellschaftsschichten – sie sah elegante Ladys mit federgeschmückten, ausladenden Hüten ebenso wie einfache Frauen des Mittelstands. Susan trug ein dunkelblaues Kleid mit einem schicklichen Ausschnitt und einen kleinen Hut auf ihrem aufgetürmten Haar. Sie konnte sich damit zwar nicht mit den Damen der ersten Gesellschaft messen, fühlte sich jedoch angemessen gekleidet. Das Theater war ein imposanter Bau im viktorianischen Stil mit einer wuchtigen Kuppel, zahlreichen Türmchen und sonstigen Verzierungen an der Fassade. Es war dem in Plymouth nicht unähnlich, obschon ungefähr vier bis fünf Mal so groß und dadurch wesentlich imposanter.
Da die Vorstellung bis auf den letzten Platz ausverkauft war, führte Stephen sie in eine Loge im zweiten Stock, in der bereits sechs weitere Personen Platz genommen hatten. Man stellte sich einander mit einem unverbindlichen Nicken kurz vor, dann hatte Susan Zeit, das Theater von innen zu betrachten. Hier konnte das Plymouther Haus, das Susan schon äußerst prächtig und elegant vorgekommen war, nicht mehr mithalten. Der Innenraum – die Einrichtung war in Gold und in Rot gehalten – ragte über vier Geschosse in die Höhe, die auf drei Seiten von Logen begrenzt waren. Der rote, schwere Vorhang auf der großen Bühne war noch geschlossen, im Innenraum drängten sich die Menschen zu ihren Plätzen.
»Das Theater verfügt über zweitausend Plätze«, flüsterte Stephen Susan ins Ohr, da er ihre Faszination bemerkt hatte. »Damit zählt es zu den kleineren Theatern Londons. Das Royal-Court-Theater fasst beinahe die doppelte Menge an Zuschauern.«
Susan war beeindruckt und wurde von einer angespannten Erregung ergriffen. Stephen hatte ein Programmheft besorgt, in dem Susan sich über das Stück informierte, denn es wurde in französischer Sprache aufgeführt. Sie beugte sich zu Stephen und fragte: »Verstehen die Menschen hier diese Sprache? Es erscheint mir seltsam, dass so viele Leute gekommen sind, um ein französisches Stück zu sehen.«
»Die Menschen sind nicht wegen des Stückes gekommen, sondern um Sarah Bernhardt zu sehen. Die Grande Dame des Theaters könnte auch nur still auf einem Stuhl sitzen und kein Wort sagen – die Vorstellung wäre trotzdem ausverkauft.«
Susan runzelte skeptisch die Stirn. Nun, sie würde sich überraschen lassen. Das Stück des Autors Racine hieß
Esther
und war, laut Stephens Aussage, eine der Paraderollen von Sarah Bernhardt.
Als sich der Vorhang hob, wurde es plötzlich ganz still. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Als dann eine Frau in weißen, wallenden Gewändern, die mehr an orientalische Tücher als an ein Kleid erinnerten, auf die Bühne trat, brandete unbeschreiblicher Applaus auf. Sarah Bernhardt verbeugte sich und begann dann mit einem Monolog, von dem Susan – ebenso wie wahrscheinlich die Mehrzahl der Besucher – kein Wort verstand. Dennoch wurde Susan vom ersten Augenblick an in den Bann dieser kraftvollen, außergewöhnlichen Stimme gezogen. Stephen reichte ihr ein Fernglas, damit sie die Schauspielerin auch von nahem betrachten konnte.
»Aber die ist ja schon alt!« Unbedacht hatte Susan die Worte so laut gerufen, dass ihr dies sofort tadelnde Blicke der anderen Zuschauer in der Loge einbrachte. Wegen Stephens schwärmerischen Worten über Sarah Bernhardt hatte Susan eine junge und schöne Akteurin erwartet, und nicht eine ältere Dame.
Stephen lächelte und flüsterte dicht an ihrem Ohr: »Madame Sarah mag zwar auf dem Papier die sechzig überschritten haben, sie wird jedoch immer jung sein. Eine Frau wie sie ist alterslos.«
Je länger Susan das Spiel verfolgte, dessen Handlung sich ihr trotz des Programmheftes nicht erschloss, desto mehr wurde sie in den Bann von Sarah Bernhardt gezogen. Es war, als versinke die Welt um Susan herum, und es gab nur noch diese kleine, zierliche, weißgekleidete Frau auf der großen Bühne, die sie völlig ausfüllte. Sie war nicht schön im landläufigen Sinne, und betrachtete man ihr Gesicht durch das Fernglas, sah man deutlich die Spuren des Alters, dennoch agierte die Schauspielerin wie ein junges Mädchen. Ihre Bewegungen waren anmutig und leichtfüßig, fast schien es, als würde
Weitere Kostenlose Bücher