Das Lied der Luege
Augen, als er ihren Namen aussprach.
»So, und dann komme ich als Lückenbüßer gerade recht?«, scherzte Susan und drohte spielerisch mit dem Finger.
Stephen beugte sich vor und sah Susan tief in die Augen.
»Wenn ich gewusst hätte, Sie in London zu treffen, hätte ich niemals gewagt, jemand anderen als Sie einzuladen.« Obwohl Stephens Worte nicht mehr als ein harmloses Geplänkel waren, stärkten sie ihr Selbstbewusstsein und waren Balsam für ihre Seele. »Bitte, machen Sie mir die Freude, mich zu begleiten, und ich verspreche Ihnen, Sie werden einen unvergesslichen Abend erleben. Madame Sarah muss man auf der Bühne gesehen haben, denn nichts und niemand ist mit ihr zu vergleichen.«
Susan überlegte nicht länger. Was erwartete sie in der Pension? Ein weiterer einsamer und langweiliger Abend und nichtssagende Gespräche mit Ernest Hornsby, dessen liebeskranker Blick, mit dem er sie inzwischen ansah, ihr gehörig auf die Nerven ging. Obwohl Stephen Polkinghorn ein Filou war, wie er im Buche stand, belebte seine Anwesenheit Susan ungemein. In London interessierte es niemanden, ob sie mit Stephen ausging. Nach wie vor empfand sie keine tieferen Gefühle für ihn, doch warum sollte sie nicht einen Abend in seiner angenehmen Gesellschaft verbringen? Wobei der Gedanke, einmal ein Londoner Theater von innen zu sehen, Susan mehr in Erregung versetzte als Stephens Anwesenheit. Sie nannte ihm ihre Adresse, und er versprach, sie gegen sieben Uhr abzuholen.
Stephen war pünktlich und wartete vor dem Haus. Susan nahm schmunzelnd zur Kenntnis, dass Mrs. Oxcombe hinter der Gardine eines Zimmers im Erdgeschoss Susans Begleitung genau beobachtete. Ihr war gleichgültig, was die Wirtin dachte, wenn sie – eine junge Witwe – mit einem gutaussehenden Mann ausging. Nachdem Stephen Susan mit einem angedeuteten Handkuss begrüßt hatte, wandte er sich lächelnd um.
»Ich hoffe, Sie haben nicht das Vertrauen in mich verloren und steigen in mein Automobil. Ich verspreche, ganz besonders aufzupassen, damit nicht wieder etwas geschieht.«
Am Straßenrand stand ein schwarzer Wagen, der dem anderen, beim Unfall zerstörten Automobil ähnlich war.
»Sie scheinen diese pferdelosen Kutschen zu lieben«, sagte Susan und ging um das Auto herum. »Ich hätte gedacht, nach dem Unfall haben Sie genug von diesen stinkenden Dingern.«
»Das ist die Zukunft, bald wird es auf den Straßen keine Pferdefuhrwerke mehr geben.« Stephen klopfte auf einen Kotflügel und fuhr stolz fort: »Es ist das neueste Modell, erst seit wenigen Monaten auf dem Markt, ein Ford, Modell N, ich habe es mir aus Amerika schicken lassen. Sehen Sie« – er deutete in den Innenraum –, »der Wagen hat ein Planetengetriebe zur Gangwahl.«
»Ach ja?« Susan hatte keine Ahnung, wovon Stephen sprach.
»Der Motor hat fünfzehn Pferdestärken«, fuhr er fort und fügte erklärend hinzu: »Das bedeutet, dass das Automobil so schnell werden kann, als würde es von fünfzehn kräftigen Pferden gezogen.«
Das war Susan verständlich, und sie ließ sich von Stephen beim Einsteigen helfen. Ein paar Passanten drehten sich interessiert zu ihnen um, als Stephen den Wagen startete und langsam anfuhr.
»Wollten Sie sich nicht ein Auto mit Dach besorgen?«, fragte Susan in Erinnerung an Stephens frühere Aussage.
»Am liebsten schon, damit man bei Regen geschützt ist, aber die Entwicklung dieser Automobile ist noch nicht so weit. Durch ein Dach werden die Wagen sehr schwer und sind daher nicht sehr leistungsfähig. Es wird jedoch eifrig daran gearbeitet, und ich halte mich auf dem Laufenden. Im Süden von Deutschland gibt es eine Firma, die diesbezüglich gute Fortschritte macht. Vielleicht kaufe ich mir als Nächstes einen solchen Mercedes.«
Susan ließ ihn reden, denn es war offensichtlich, wie stolz Stephen auf sein Wissen über Automobile war. Wie schon in Cornwall genoss sie es, durch die Straßen zu fahren, ebenso die Blicke der Menschen, die ihnen nachstarrten. Obwohl in London im Vergleich zu Cornwall etliche Automobile unterwegs waren, erregte man in einem solchen Wagen doch viel Aufmerksamkeit.
Die Fahrt dauerte nur eine knappe halbe Stunde, dann hatten sie die lange Straße,
Strand
genannt, im Londoner West End erreicht. Das
Gaiety-Theatre
befand sich am östlichen Ende der Straße. Stephen hatte Mühe, für seinen Wagen einen Platz zu finden, denn Dutzende von Kutschen und auch eine große Anzahl von Automobilen drängten sich um das Theater.
»Ich
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