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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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noch, wenn Susan ihn direkt anblickte. Seine Einladung, ihn am Wochenende zu einem Spaziergang in den Hyde Park zu begleiten, wies sie jedoch zurück.
    »Es tut mir leid, Mr. Hornsby, aber ich bin derzeit keine gute Gesellschafterin«, sagte Susan. »Der Verlust meines Kindes belastet mich sehr.«
    Er nickte verständnisvoll.
    »Vielleicht sollten Sie gerade deswegen auf andere Gedanken kommen? Sie verlassen die Pension nur selten, ein zwangloser Spaziergang würde Ihnen guttun, zumal der Frühling endlich nach London gekommen ist.«
    Susan blieb jedoch bei ihrer Ablehnung, erst recht, als sie bemerkte, dass Mrs. Oxcombe sie beide aufmerksam beobachtete. Später machte die Wirtin eine Bemerkung, die Susan verriet, dass Mrs. Oxcombe vermutete, es bahne sich zwischen ihr und dem Anwaltsgehilfen eine zarte Freundschaft an, aus der vielleicht mehr werden könnte. Susan wusste, es wäre besser, die Pension zu verlassen und sich woanders ein Zimmer zu suchen, doch dafür fehlte es ihr im Augenblick an Kraft. Sie lebte von einem Tag auf den anderen, aß wenig und schlief schlecht. Nicht einmal das viele Geld, das sie nach wie vor in der Reisetasche unter ihrem Bett verwahrte, ließ ihr Herz höherschlagen. Was hatte sie für Pläne gehabt! Pläne für sich und Jimmy. Ein eigenes Geschäft, eine hübsche Wohnung und für Jimmy die besten Schulen. Irgendwann hätte sie einen netten Mann kennengelernt – einen Kaufmann oder gutsituierten Handwerker – und sich neu verliebt. Jetzt jedoch war das Thema Liebe für Susan so unvorstellbar wie der Gedanke, zum Mond zu fliegen.
     
    Es war an einem Samstagnachmittag, als Susan mit dem Pferdebus in die Stadt fuhr. Sie brauchte dringend neue Schuhe, denn die Temperaturen stiegen, und ihre mit Fell gefütterten Lederstiefel, die sie sich noch in Plymouth gekauft hatte, wurden ihr zu warm. Sie schlenderte durch die Straßen von Kensington, zögerte jedoch, eines der eleganten Geschäfte zu betreten. Trotz ihres Vermögens fühlte sie sich in dieser Umgebung fehl am Platz. Pauls Worte, sie würde immer der Unterschicht angehören, gleichgültig, wie viel Geld sie hatte, kamen ihr in den Sinn. Wahrscheinlich hatte er recht gehabt. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen und betrachtete die reichhaltige Auslage. Ein Paar Stiefel erweckte ihre Aufmerksamkeit, doch gerade, als sie sich entschloss, das Geschäft zu betreten, hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
    »Susan! Ja, ich glaube es nicht, das ist tatsächlich Susan Hexton!«
    Susan wandte sich um, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
    »Mr. Polkinghorn! Was machen Sie denn in London?«
    Stephen Polkinghorn hatte sich in den vergangenen Monaten nicht verändert. Sein Gesicht hatte immer noch etwas Lausbubenhaftes, das helle Haar fiel ihm in die Stirn, und wenn er, so wie jetzt, lachte, wirkte er sehr charmant und attraktiv.
    Stephen nahm Susans Hand und drückte sie.
    »Ich bin glücklich, Sie zu sehen, Susan.« Sein Blick wurde ernst, als er fortfuhr: »Es tut mir so leid, was damals geschehen ist. Der Unfall … Sie wissen schon. Seitdem habe ich mir große Vorwürfe gemacht, Sie derart in Gefahr gebracht zu haben.«
    »Sie tragen keine Schuld«, antwortete Susan und lächelte. »Sie hätten den Unfall ja nicht verhindern können. Mir ist kaum etwas geschehen, nur eine Gehirnerschütterung, ein paar Prellungen und ein verstauchtes Handgelenk.«
    »Ihr Kind …?« Stephen vollendete den Satz nicht, aber Susan verstand.
    »Dem Kind ist nichts geschehen, es grenzte beinahe an ein Wunder.«
    Stephen sah sich auf der Straße um.
    »Ich würde mich gerne länger mit Ihnen unterhalten, Susan. Darf ich Sie zu einem Kaffee oder Tee einladen?«
    Susan wusste, sie hätte jetzt nein sagen und sich von Stephen verabschieden müssen, doch seine unerwartete Anwesenheit tat ihr gut und lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab, darum nahm sie seine Einladung an. Wenig später saßen sie in einem eleganten Caféhaus in der Kensington Road, das mit zahlreichen südländischen Pflanzen wie ein großer Wintergarten eingerichtet war. Susan bestellte Kaffee und Schokoladenkuchen, und zum ersten Mal seit Tagen aß und trank sie mit Genuss. Nachdem Stephen seinen Tee getrunken hatte, zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Susan kam nicht umhin, zu bemerken, dass seine schlanken Beine in den engen, dunklen Hosen gut zur Geltung kamen. Sie verstand, warum kaum eine Frau Stephen widerstehen

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