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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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sie über die Bühne schweben.
    Das Stück wurde ohne Pause gespielt, und am Ende wollte der Applaus nicht aufhören. Alle erhoben sich von den Plätzen, und erst nach vierundzwanzig Vorhängen wurde Sarah Bernhardt von der Bühne entlassen.
    »Sie haben recht gehabt, die Frau ist etwas ganz Besonderes.« Susan lächelte Stephen an. »Ich danke Ihnen für diesen herrlichen Abend.«
    »Oh, der Abend ist noch nicht vorbei, ich habe eine Überraschung parat.« Er zwinkerte ihr zu, fasste sie am Arm, und sie strebten, eingekeilt zwischen Hunderten von Zuschauern, zum Ausgang. »Wir werden Madame Sarah unsere Aufwartung machen. Es ist mir gelungen, meinen Namen auf die Liste der Gäste zu setzen, die Madame Sarah nach der Vorstellung empfängt.«
    Susan wollte lieber nicht wissen, wie Stephen ein solches Kunststück gelungen war, und ihr Herz klopfte heftig. Der Empfang wurde in den Bereichen hinter der Bühne gegeben, und als Stephen und Susan eintraten, drängten sich an die hundert Personen in den kleinen Räumen. Büfetts mit kalten Speisen waren aufgebaut, und Diener schenkten Champagner und Limonade aus. Sie drängten sich zwischen den Leuten hindurch, und dann sah Susan die Schauspielerin direkt vor sich. Sarah Bernhardt hatte sich nicht umgezogen, sie trug immer noch die wallenden Gewänder, und ihr längliches, spitzes Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen mit roter Farbe bemalt, und ihre hellen Augen schimmerten wie zwei Diamanten. Sie war sehr klein und so mager und zierlich, dass sie wie ein vierzehnjähriger Jüngling wirkte. Einer Königin gleich thronte sie inmitten zahlreicher bunter Kissen auf einer Chaiselongue und nahm lächelnd die Komplimente ihrer Gäste entgegen. Aus der Nähe betrachtet, ließ sich Sarahs Alter nicht verleugnen, dennoch meinte Susan, nie zuvor eine schönere und vor allen Dingen würdevollere Frau gesehen zu haben. Stephen trat zu ihr, verbeugte sich und sagte ein paar Worte auf Französisch, die die Diva wohl belustigen mussten, denn sie lachte laut auf. Dann deutete Stephen auf Susan, die zögernd näher kam, und stellte sie vor. Sarah Bernhardt musterte sie von oben bis unten, nickte wohlgefällig und sagte etwas, das Stephen ihr flüsternd übersetzte: »Sie findet Sie sehr hübsch, Susan, und sie meint, Sie würden sie an ihre eigene Jugend erinnern.«
    »Merci«, murmelte Susan, das einzige französische Wort, das ihr im Moment einfiel, dann waren sie und Stephen entlassen, und Madame Sarah gab sich den Huldigungen der anderen Gäste hin.
    Sie aßen ein paar Canapés, Susan trank ein Glas Champagner, und dabei kam sie ins Gespräch mit Männern und Frauen, die allesamt Sarah Bernhardt verehrten. Man sprach über das Stück und äußerte die Hoffnung, die berühmte Schauspielerin möge ihr Gastspiel in London um einige Wochen verlängern.
    Als Stephen mit einem Bekannten ins Gespräch vertieft war, trat eine junge Frau zu Susan und sagte in gebrochenem Englisch mit einem starken französischen Akzent: »Madame Sarah lässt Ihnen ausrichten, dass Sie ihre Aufmerksamkeit errungen haben. Sie findet Sie nicht nur hübsch, sondern sehr anmutig.«
    Susan, an Komplimente nicht gewöhnt, errötete. »Danke, das ist sehr freundlich«, stammelte sie.
    Die junge Frau lächelte. Jetzt erkannte Susan sie – sie war in einer kleinen Nebenrolle aufgetreten.
    »Madame Sarah meint, Sie erinnern sie an sich selbst, als sie noch jung war.«
    »Ja, das sagte sie bereits zu meinem Begleiter«, erwiderte Susan mit einem wachsenden Gefühl von Stolz.
    In der Tat bestand zwischen Susan und Sarah Bernhardt eine gewisse Ähnlichkeit, wenngleich die vierzig Jahre Altersunterschied sich nicht leugnen ließen. Susan war jedoch ebenso zierlich, ihr längliches, schmales Gesicht wurde von großen, grauen Augen beherrscht, und ihr Haar war dick und kräftig, allerdings glatt und nur an den Spitzen gewellt, während Madame Sarahs Haar eine einzige wilde Lockenpracht war.
    »Danke«, wiederholte Susan nur, unsicher, was sie sagen sollte.
    »Madame Sarah würde sich freuen, wenn Sie übermorgen wieder ihre Vorstellung besuchen«, fuhr die junge Frau fort. »Sie gibt den Herzog von Reichstadt in dem Stück L‘Aiglon von Rostand.« Die Frau senkte die Stimme und zwinkerte Susan zu. »Eine ihrer besten Rollen, wie ich finde. Keine Frau war in einer Hosenrolle jemals besser.«
    »Ja, das ist auch meine Meinung«, stimmte Susan zu, obwohl sie weder das Schauspiel noch den Autor kannte.
    »Als Madame Sarah vor

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