Das Lied der Luege
Kein Gesetz der Welt kann mich zurückhalten.«
Adam Chatham zuckte mit den Schultern und bat Hornsby, Susan zur Tür zu begleiten. Im Vorraum der Kanzlei erhob sich eine ältere, großgewachsene Dame in einem dunklen Mantel und trat Susan in den Weg.
»Es tut mir leid«, sagte die Dame schlicht und sah Susan so verständnisvoll an, dass diese überrascht stehen blieb. »Ich wollte nicht lauschen, es war jedoch unvermeidlich, einen Teil Ihres Gespräches mit anzuhören.«
»Schon gut«, murmelte Susan geistesabwesend, nahm ihren Mantel vom Haken und zog ihn an.
Die Frau griff in ihre Tasche, holte eine Karte hervor und sagte: »Wir sollten uns unterhalten. Vielleicht möchten Sie mich einmal zum Tee besuchen?«
Susan runzelte die Stirn. Ihr stand nicht der Sinn danach, neue Bekanntschaften zu knüpfen und sich zu einer zwanglosen Teestunde zu verabreden. Es war schon peinlich genug, dass die Dame ihr Gespräch mitbekommen hatte.
»Ich bin sehr beschäftigt«, antwortete sie daher diplomatisch.
Die Frau lächelte. »Mein Name lautet übrigens Pankhurst. Mrs. Emmeline Pankhurst, und ich kann Ihnen vielleicht helfen.«
»Können Sie mir meinen Sohn zurückbringen?«, fragte Susan und starrte die Frau, deren Name ihr nicht das Geringste sagte, an.
»Nein, leider nicht. Die Gesetze werden von Männern gemacht, von Männern vertreten und ausgeführt, und deswegen werden Männer immer recht bekommen – gleichgültig, ob das moralische Recht auf ihrer Seite ist.«
»Nun, dann entschuldigen Sie mich.« Susan nahm zwar die Karte der Dame, steckte sie jedoch achtlos in die Manteltasche.
»Alles Gute, Susan«, murmelte Emmeline Pankhurst und sah der jungen Frau mitleidig nach, als diese die Kanzlei verließ.
9. Kapitel
D ie folgenden Tage verlebte Susan wie in einem Nebel, in dem sie herumirrte und keinen Ausweg fand. Sie kontaktierte einen anderen Anwalt, doch die Auskunft, die sie dort erhielt, war dieselbe wie die von Mr. Chatham. Dieser Anwalt fügte noch erklärend hinzu, dass, wenn ein Mann seine Familie verließ, er trotzdem das Sorgerecht für die Kinder behielt, nicht jedoch die Frau, wenn sie die Schuldige war.
»Mrs. Hexton, durch das mutwillige Verlassen Ihres Sohnes haben Sie für alle Zeiten den Anspruch auf das Kind verloren«, sagte er ernst.
Allmählich begann Susan zu begreifen, dass das Gesetz gegen sie war und dass sie dies akzeptieren musste. Nach vier Tagen raffte sie sich auf und fuhr noch einmal nach St. Giles-in-the-Fields hinaus. Heute schien zwar die Sonne, dadurch wurde jedoch das Triste dieser Gegend noch deutlicher. Von einem Nachbarn erfuhr Susan, dass Paul Hexton nicht mehr hier wohnte. Zusammen mit Rose und Jimmy hatte er die Gegend vor zwei Tagen verlassen und niemandem seine neue Adresse mitgeteilt. Voller Entsetzen überlegte Susan, sich erneut an den Detektiv zu wenden, verwarf den Gedanken indes wieder. Sie war sicher, dieses Mal hatte Paul dafür gesorgt, dass sie ihn nicht fand, sogar, wenn ihm das Ärger mit der Polizei einbringen konnte. Vielleicht hatte er London verlassen? An den einsamen Abenden, die Susan allein in ihrem Pensionszimmer verbrachte, schien ihre Verzweiflung übermächtig zu werden. Sie vermisste Jimmy schmerzlich, gleichzeitig musste sie immer wieder an die kleine Anabell denken. Während sie bei Jimmy geglaubt hatte, ihn nur vorübergehend in andere Hände gegeben zu haben, hatte sie ihre Tochter mutwillig verlassen, ja, sogar verkauft. Susan tröstete sich zwar mit dem Gedanken, dass Anabell in sicheren und guten Verhältnissen aufwuchs, während das ungewisse Schicksal, das Jimmy bevorstand, ihr beinahe das Herz zerriss. Vergessen war die Idee, sich nach einem Ladengeschäft umzusehen. Wozu sollte sie das jetzt noch tun? Ihr genügte das Pensionszimmer bei der Witwe Oxcombe, wenngleich Ernest Hornsby ihr zunehmend auf die Nerven ging. Seit er die Wahrheit über Susan – nun ja, einen Teil der Wahrheit – wusste, schien sich seine linkische Schüchternheit in eine Art Beschützerinstinkt gewandelt zu haben. Er suchte beim Frühstück und beim Abendessen ihre Gesellschaft und führte belanglose Gespräche, die Susan langweilten. Sie wollte jedoch nicht unhöflich sein, darum hörte sie scheinbar interessiert zu, wenn er von seiner Heimat in Yorkshire erzählte, und warf hin und wieder eine Frage ein. Wenn Ernest Hornsby von seinem Zuhause erzählte, schien er seine Schüchternheit zu verlieren. Seine Augen glänzten, und er errötete nur
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