Das Lied der Maori
der Akte und überflog den Abschnitt zum Thema »Erben«.
Marvin Lamberts einziger Sohn ist leidend und wird das Unternehmen nach menschlichem Ermessen niemals führen können. Der Wunsch der Familie, zumindest einen Teil der Mine schnell zu Geld zu machen, durfte auch auf die Notwendigkeit zurückgehen, den Lebensunterhalt des Kranken dauerhaft zu sichern ...
Tim wurde blass.
»Es tut mir leid, Mr. Lambert«, meinte Greenwood. »Aber nach diesem Bericht hätte ich den Sohn der Familie eher in einem Sanatorium in der Schweiz vermutet als auf einem Pferd am Bahnhof von Greymouth.«
Tim atmete tief durch. Er musste sich beruhigen, diesen Abend irgendwie durchstehen ...
»Verzeihung, Mr. Greenwood, aber ich konnte ja nicht wissen ... Wem habe ich diese Schilderung meines Gesundheitszustandes zu verdanken? Meinem Vater oder Mr. Weber?«
»Sie wissen von der Vermittlungstätigkeit Mr. Webers?«, fragte Greenwood.
»Das pfeifen die Spatzen von den Dächern«, gab Tim zurück. »Und Florence Weber wäre zweifellos entzückt, die Verwaltung der Biller- und der Lambert-Mine zusammenzulegen. Dann hätte sie zwei Bergwerke.« Er wandte sich ab. »Vielleicht hätte ich Kuras Rat folgen sollen!«
»Kuras Rat?«, fragte Elaine eifersüchtig.
»Ein schlechter Witz«, meinte Tim müde.
»Und warum wollen Sie die Mine denn nun tatsächlich nicht leiten?«, fragte Greenwood. »Gänzlich andere Interessenslage? Ruben meinte, Sie würden vielleicht das Geschäft in Westport übernehmen.«
Tim straffte sich. »Sir, ich bin Bergbauingenieur. Ich habe Diplome von zwei europäischen Universitäten und praktische Erfahrung in Minen in sechs Ländern. Von nicht wollen kann keine Rede sein. Aber mein Vater und ich sind in einigen sehr wichtigen Dingen, das Management der Mine betreffend, verschiedener Meinung.«
Greenwoods wacher Blick wanderte über Tims Körper.
»Ist Ihr Zustand eine Folge dieser ... Meinungsverschiedenheiten? Sie können ganz offen sprechen, ich weiß von den Explosionen in der Mine und deren weitgehend verschleierten Ursachen. Und auch von zwei Männern der Minenleitung, die gleich nach dem Unglück eingefahren sind. Der eine ist tot ...«
»Für meinen Vater ist der andere auch tot«, sagte Tim heiser.
»Also erzählst du jetzt endlich was über die Sache mit der Scheidung, Onkel George?«, unterbrach Elaine. Sie hatte mit ihrem Bruder herumgealbert und war sich des Ernstes des Gesprächs zwischen Tim und Greenwood gar nicht bewusst. »Über die Mine könnt ihr doch nachher noch sprechen. Außerdem habe ich Hunger.«
Tim hatte keinen Hunger. Er blickte George Greenwood in die Augen.
»Wir reden morgen früh darüber«, meinte Greenwood. »Unter vier Augen. Kommen Sie um neun in meine Suite, und bringen Sie die Diplome mit. Aber ich denke, wir werden uns sehr schnell einigen. Ich habe übrigens sechzig Prozent der Anteile an Ihrer Mine gekauft, Mr. Lambert. Wer dort tot ist, bestimme ich.«
George Greenwood ließ sich Zeit mit seinen Neuigkeiten. Erst als der erste Gang vor ihnen stand, bequemte er sich, Elaines beharrliche Fragen zu beantworten.
»Thomas Sideblossom wird der Scheidung zustimmen«, erklärte er schließlich. »Einer unserer Anwälte hat mit Johns Witwe gesprochen. Sie hält sich zurzeit auf Lionel Station auf, wird aber nach Blenheim zurückkehren und mit ihm reden, sobald sie die Angelegenheiten in Otago geregelt hat.«
»Reden kann sie viel«, meinte Elaine zweifelnd. »Aber was berechtigt sie zu der Annahme, dass Thomas auf sie hört?«
»Oh, Mrs. Sideblossom zufolge liegt die Scheidung in seinem eigenen Interesse«, sagte George schmunzelnd. »Sobald sie durch ist, gedenkt er, seine ehemalige Schwiegermutter zu heiraten.«
»Was?« Elaine stieß die Frage so heftig heraus, dass sie sich an ihrem Krebsschwanzcocktail mit Zitronensauce verschluckte und husten musste. Als sie sich wieder gefangen hatte, stand Panik in ihren Augen.
»Das kann sie nicht machen«, flüsterte sie. »Zoé, meine ich. Sie ...«
»Ich habe auch zweimal nachgefragt«, gab George zu, »bevor mir die Zusammenhänge aufgingen.«
»Ja?«, fragte Stephen, der mit dem Essen auf seinem Teller spielte, verwundert. Er mochte keine Meeresfrüchte und versuchte, die Krebsschwänze unauffällig von den sonstigen Bestandteilen des Cocktails zu trennen. »Aber das ist doch offensichtlich. Der Dame bleibt eigentlich gar keine andere Wahl.« Stephen ließ einen Krebsschwanz unter dem Tisch verschwinden, wo
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