Das Lied der Maori
vonnöten war. Inzwischen wurde es fast schon dunkel – sicher ein Grund, weshalb Helen und Daphne ihr Treffen nicht weiter ausdehnten. Gegen Abend öffnete der Pub, und Daphne musste dort nach dem Rechten sehen. Helen drängte es, einen Blick auf die Anmeldung des neuen Gastes zu werfen, der einen so nachhaltigen Eindruck auf ihre Enkelin gemacht hatte.
Daphne, bereits im Aufbruch, schaute ihr dabei über die Schulter.
»Er kommt von Martyn’s Manor ... hört sich nobel an«, meinte sie. »Also doch ein Gentleman?«,
»Das werde ich sehr schnell herausfinden«, erklärte Helen resolut.
Daphne nickte und lächelte in sich hinein. Dem jungen Mann standen inquisitorische Befragungen bevor. Für emotionale Beziehungen hatte Helen wenig Gespür.
»Und passen Sie auf die Kleine auf!«, bemerkte Daphne deshalb noch im Hinausgehen. »Die ist diesem irischen Wunderknaben nämlich schon verfallen, und das kann Folgen haben. Gerade bei Gentlemen.«
Zu Helens Verwunderung fiel die Begutachtung ihres neuen Gastes aber gar nicht so negativ aus. Im Gegenteil – als der junge Mann sich ihr erstmals zeigte, war er sauber gewaschen, rasiert und ordentlich gekleidet – auch Helen erkannte, dass sein Anzug aus bestem Tuch gefertigt war. Höflich erkundigte er sich, wo man hier zu Abend essen könne, und Helen bot ihm den Beköstigungsservice an, den sie für ihre Pensionsgäste bereithielt. Eigentlich musste man sich dazu anmelden, doch ihre eifrigen Köchinnen, Mary und Laurie, würden schon ein zusätzliches Essen zaubern. William fand sich also in einem geschmackvoll gestalteten Esszimmer an einem fein gedeckten Tisch wieder, gemeinsam mit einer etwas steifen jungen Dame, die als Lehrerin an der neu eröffneten Schule tätig war, sowie zwei Bankangestellten. Die Bedienungen irritierten ihn zunächst: Mary und Laurie, zwei fröhliche dralle Blondinen, entpuppten sich als Zwillinge, die William auch bei genauestem Hinsehen nicht auseinanderhalten konnte. Die anderen Gäste versicherten ihm jedoch lachend, das sei ganz normal. Lediglich Helen O’Keefe könnte Mary und Laurie auf einen Blick unterscheiden. Helen lächelte dabei. Sie wusste, dass Daphne es ebenfalls konnte.
Das gemeinsame Essen bot natürlich den idealen Rahmen, William Martyn auszuhorchen. Helen brauchte ihn nicht einmal selbst zu befragen, das besorgten schon die neugierigen anderen Gäste.
Ja, doch, er sei wirklich Ire, bestätigte William mehrmals und ein bisschen unwirsch, nachdem ihn auch die beiden Banker auf seinen fehlenden Akzent angesprochen hatten. Sein Vater habe eine Schafzucht in der Grafschaft Connemara. Diese Auskunft bestätigte die Annahme, die Helen gleich hegte, seit sie William das erste Mal hatte sprechen hören: Er war ein bestens erzogener junger Mann, dem man breites Irisch niemals hätte durchgehen lassen.
»Aber Sie sind englischstämmig, nicht wahr?«, erkundigte sich einer der Banker. Er stammte aus London und schien sich mit der irischen Frage ein wenig auszukennen.
»Die Familie meines Vaters kam vor zweihundert Jahren aus England!«, erklärte William gereizt. »Wenn Sie da noch von Einwanderern reden wollen ...«
Der Banker hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, mein Freund! Wie ich sehe, sind Sie Patriot. Was hat Sie denn von der grünen Insel fortgetrieben? Ärger über die Sache mit der Home Rule Bill? Es war zu erwarten, dass die Lords das abschmettern. Aber wenn Sie doch selbst ...«
»Ich bin kein Großgrundbesitzer«, bemerkte William eisig. »Geschweige denn ein Earl. Es mag sein, dass mein Vater in gewisser Hinsicht mit dem House of Lords sympathisiert, aber ...« Er biss sich auf die Lippen. »Verzeihen Sie, das gehört nicht hierher.«
Helen beschloss, das Thema zu wechseln, bevor dieser Heißsporn noch heftiger reagierte. Was sein Temperament anging, war er zweifellos Ire. Obendrein hatte er sich mit seinem Vater überworfen. Gut möglich, dass dies ein Grund für das Auswandern war.
»Und nun wollen Sie Gold suchen, Mr. Martyn?«, erkundigte sie sich beiläufig. »Haben Sie schon einen Claim abgesteckt?«
William zuckte die Schultern. Er wirkte mit einem Mal sehr unsicher.
»Nicht direkt«, erwiderte er verhalten. »Mir wurden ein paar Stellen avisiert, die vielversprechend sind, aber ich kann mich nicht entscheiden ...«
»Sie sollten sich einen Partner suchen«, riet der ältere der beiden Banker. »Am besten einen erfahrenen Mann. Es sind doch genug Veteranen auf den Goldfeldern, die schon
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