Das Lied der roten Erde (German Edition)
wässrige Suppe, die sie ihm heute vorgesetzt hatten, roch nach verdorbenem Fleisch. Er hatte sie nicht angerührt. Jede Bewegung tat ihm weh; auch in Parramatta sparten die Wärter nicht mit Prügel. Wenigstens hatte man ihm das Hemd und die Hose gelassen. Durch das vergitterte Fenster drang tagsüber ein wenig Licht und nachts die Kälte, die die fadenscheinige Decke kaum abhalten konnte. Seine Füße waren zwei eiskalte Klumpen, die Haut an seinen Fußgelenken aufgescheuert von den eisernen Fesseln, die man ihm wegen angeblicher Fluchtgefahr angelegt hatte. Er konnte kaum damit laufen, so schwer waren sie. Aber wohin hätte er auch laufen sollen, hier, in dieser kleinen Zelle?
Er hatte die zweifelhafte Ehre, einer der ersten Insassen des neu errichteten Gefängnisses von Parramatta zu sein, nachdem das letzte wie das von Sydney im vergangenen Jahr von Gefangenen niedergebrannt worden war. Ein steinernes Gebäude mit kleinen, vergitterten Zellen, die rechts und links von einem langen Korridor abgingen. Demnächst wollte man es um ein weiteres Geschoss aufstocken, um dort ein Arbeitshaus für die weiblichen Sträflinge der Kolonie einzurichten. Das hatte ihm der Gefängniswärter erzählt, der einmal am Tag, meist irgendwann am Nachmittag, etwas Suppe und einen harten Kanten Brot brachte. Sonst sah er niemanden. Nur hören konnte er sie. Manchmal, wenn er das Ohr an die Tür legte, vernahm er neben dem schlurfenden Gang des Wärters auch das Husten oder Rufen von anderen Häftlingen, die hier einsaßen oder wie er auf ihre Verhandlung warteten. Aber meist hockte er auf der einfachen Pritsche und starrte durch das Fenster hinaus in den Himmel, um nicht den Verstand zu verlieren.
Das Eingesperrtsein war das Schlimmste von allem. Das und die Frage, wie es Moira ging. Sobald er die Augen schloss, tauchte ihr Gesicht vor ihm auf. War sie am Leben? Hatte McIntyre ihr helfen können? Es machte ihn fast wahnsinnig, dass er nichts für sie tun konnte. Nichts, außer für sie zu beten.
Er versuchte, sich jeden ihrer geliebten Züge in Erinnerung zu rufen. Entsann sich, wie sich ihre Haut anfühlte. Wie sie ihn in die Schulter biss. Wie sich die kleinen, mühsam unterdrückten Laute anhörten, wenn sie sich gehenließ. Durchlebte erneut die Tage mit ihr in den Bergen, rief sich jedes Wort und jede ihrer Gesten ins Gedächtnis.
Sie hatte sein Kind in sich getragen. Für eine Weile stellte er sich vor, was hätte sein können, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre. Wenn ihre Flucht geglückt wäre. Wenn das Kind hätte leben dürfen. Wie hätte es ausgesehen? Hätte es ihre Augen gehabt? Und wäre er ein guter Vater gewesen?
Kälte strich über seinen Rücken. In ein paar Tagen wäre seine Verhandlung, hatte man ihm gesagt. Dann würde ein Richter darüber entscheiden, welche Strafe ihn erwartete.
Ob sie ihn diesmal hängen würden? Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen zusammen. Er war schon einmal zum Tode verurteilt worden. Auch damals, in Irland, hatte er versucht, sich nicht auszumalen, wie es sein würde, wenn sich der Strick um seinen Hals zuziehen und er verzweifelt nach Atem ringen würde, bis ihn der Tod von seinem Leiden erlöste. Und doch hatte ihn schon damals diese grausige Vorstellung immer wieder heimgesucht.
Er zuckte zusammen, als unvermittelt ein rostiges Quietschen ertönte und die schwere Tür aufgeschlossen wurde. War es schon so weit? Holten sie ihn jetzt ab?
Er rutschte, unbeholfen durch seine Fußfesseln, von der Pritsche. Der Gefängniswärter schob seinen massigen Körper zur Hälfte durch die Tür. In der Hand hielt er einen Stock, bereit zum Zuschlagen.
»Weg von der Tür!«, blaffte der Mann ihn an, obwohl Duncan nicht einen Schritt in seine Richtung getan hatte. Dann trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Er hatte eine Eisenkette mit Handschellen bei sich. »Du hast Besuch.«
Moira? Duncans Herz begann schneller zu schlagen. Würde, konnte sie wirklich …?
»An die Wand! Auf die Knie mit dir! Hände nach vorne!«
Widerspruchslos folgte er dem Befehl. Der Kerkermeister fesselte Duncans Hände mit der Kette an den eisernen Ring in der hinteren Wand, dann trat er zurück und öffnete die Tür.
»Ihr könnt jetzt zu ihm. Klopft an die Tür, wenn Ihr wieder rauswollt.«
Duncan starrte die Gestalt an, die seine Zelle betrat. Es war nicht Moira. Es war der Doktor.
McIntyre presste sich angewidert ein Taschentuch vor die Nase, ein
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