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Das Lied der roten Erde (German Edition)

Das Lied der roten Erde (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Erde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inez Corbi
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Rücken verschwinden. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals.  
    McIntyre kam herein und schloss die Tür der Kabine hinter sich.  
    »Wieso bist du noch nicht im Bett?«, fragte er unwirsch.  
    Moira schluckte. In ihrer Hand spürte sie als tröstliche Sicherheit die Hutnadel. Stoßbereit.  
    »War Victorias Tod wirklich ein Unfall?«, fragte sie unverblümt, obwohl ihr Herz raste, als wollte es im nächsten Moment aus ihrer Brust springen.  
    McIntyre sah sie aus schweren Lidern an, als müsse er sich erst wieder erinnern, wer sie war. »Nein«, murmelte er dann. »Nein, das war es nicht.«  
    Moira erstarrte. »Habt Ihr sie … getötet?« Sie wollte es nicht sagen, aber die Worte drängten sich ihr auf die Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte.  
    »Ob ich was ?«, schreckte McIntyre aus seiner Lethargie auf. »Nein, wie kommst du darauf?« Er legte seinen schwarzen Rock ab und ließ sich auf das Bett sinken, mit dem ihre kleine Kabine zur Hälfte ausgefüllt war.  
    »Ich habe sie gefunden.« Er starrte auf seine Hände. »Es war kein Unfall. Sie wusste, was sie tat. Sie hat … sie hat sich umgebracht.«  
    Jetzt verstand Moira, weshalb er so oft zögerte, wenn sie mit ihm über seine erste Frau reden wollte. Ein Selbstmord war eine Schande, ein gesellschaftlicher Makel, über den man nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Zum ersten Mal glomm ein winziger Funken von Mitgefühl für ihren Mann auf.  
    »Das tut mir leid«, flüsterte sie.  
    McIntyre erhob sich abrupt und schlug das Bettzeug zurück. »Genug geredet. Es ist spät.«  
    Moira wusste, was jetzt folgen würde. Und sie wusste ebenfalls, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Das Öl würde sie heute wohl nicht anwenden können. Doch während sie sich für eine erneute unerfreuliche Verrichtung bereitmachte, nahm eine Frage Gestalt in ihr an: Wieso? Wieso hatte Victoria sich umgebracht?  

4.  
     
    Die Sonne stieg über dem Wasser auf und tauchte die Bucht in rötliches Licht, feine Nebelschleier hoben sich wie Gespinst. Mit einem satten Geräusch schlugen die Wellen an die Schiffsplanken. Es war noch früh, doch es schlief niemand mehr an Bord der Minerva . Nicht an diesem Morgen, an dem die Reise enden sollte.  
    Botany Bay, die Bucht der Botaniker, wie sie einst von Captain Cook genannt worden war, gehörte zum Schönsten, das Moira je gesehen hatte. So weit sie schauen konnte, erblickte sie hohe Bäume, die Äste wie Arme mit grünen Blätterbüscheln in den wolkenlosen Himmel gereckt. Das Herz wurde ihr weit. Vogelgesang erfüllte die Luft, und sie konnte einen fremdartigen Geruch riechen – würzig, aromatisch, ein wenig wie Minze. Eukalyptus, hatte ihr Captain Salkeld vorhin erklärt.  
    Alle anderen Passagiere standen ebenfalls an Deck; trotz der frühen Stunde war es schon so warm, dass sie keine Überkleidung brauchten, und das im Januar. Die Jahreszeiten waren hier auf den Kopf gestellt; wenn zu Hause Winter war, herrschte hier Hochsommer.  
    »Uuuund Feuer!«  
    Moira zuckte trotz der Warnung zusammen, als der ohrenbetäubende Lärm einer abgefeuerten Schiffskanone ertönte, mit der man einen Lotsen herbeirufen wollte. Die Rauchwolke über dem Wasser hatte sich schon lange aufgelöst, als zwei Männer in einem Boot heranruderten und einer von ihnen an Bord kam.  
    Die Bucht, in die sie bald darauf segelten, war Port Jackson, der riesige, wunderschöne Naturhafen von Sydney, der tief in das Land eingeschnitten war. Einige kleinere Inseln ragten aus dem Wasser. Als sie eine davon passierten, deren felsiger Uferrand von Muscheln überkrustet war, ertönten erschrockene Ausrufe: An einem hölzernen Galgen hing ein käfigartiges Gestell, in dem ein halb verwester Leichnam zu sehen war. Einige Fetzen Kleidung flatterten im Wind.  
    »Ein schöner Willkommensgruß«, murmelte Dr. Price an Moiras Seite.  
    »Bringt ein paar Sträflinge hinauf!«, hörte man von Zahlmeister Cox. »Sie sollen sehen, was den erwartet, der sich gegen die Krone stellt!«  
    Eilig leistete man dem Befehl Folge, und schon bald drängten einige Männer an Deck. Moira blickte zu ihnen hinüber; ihr fiel ein Mann auf, der alle anderen überragte, ein rothaariger Hüne von kräftiger Gestalt. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem grobschlächtigen Gesicht, als er das zerlumpte Skelett erblickte. Dann begriff sie: Er lächelte.  
    Trotz des schauerlichen Anblicks dort auf der Insel fühlte Moira sich besser als in den Wochen zuvor. Die

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