Das Lied der roten Erde (German Edition)
lange Reise hatte endlich ein Ende. Dabei war es, wie Dr. Price nicht müde wurde zu betonen, eine ausgesprochen kurze und gute Überfahrt gewesen. Seit ihrer Abreise im August, kurz nach Moiras neunzehntem Geburtstag, waren gerade einmal viereinhalb Monate vergangen. Sie waren schnell vorangekommen, und nur drei Sträflinge waren gestorben, von denen zwei schon alte Männer waren – ein Rekord, wenn man von sonstigen Gefangenentransporten ausging.
Alle an Bord, selbst die Sträflinge, waren in aufgeräumter Stimmung, viele lachten und scherzten miteinander. Als die Minerva in den Hafen einfuhr, reckten alle die Hälse. Moira klammerte beide Hände um die Reling und konnte sich nicht sattsehen. Dies sollte also ihre neue Heimat werden. Am Hafenende erhoben sich ein Leuchtturm und ein Flaggenmast, an dem die englische Fahne flatterte. Hinter dem Hafenkai konnte sie Straßen und einige einfache Unterkünfte erkennen, darüber eine bewaldete Anhöhe. Endlich wieder Land, Häuser, Straßen! Moira sehnte sich danach, festen Boden unter den Füßen zu spüren, über grüne Wiesen zu laufen.
Der Captain ließ neben einer Brigg ankern, hinter der noch andere Schiffe lagen, und befahl, die restlichen Sträflinge nach oben zu holen. Ein weiteres Boot brachte einige Herren, die an Bord kamen und sogleich mit dem Captain und den Offizieren unter Deck verschwanden. Danach dauerte es nur wenige Minuten, bis die ersten kleinen Schaluppen die Minerva umkreisten. Rufe erschollen, Namen wurden gerufen, Satzfetzen flogen hin und her. Jeder der Gefangenen wollte der Erste sein, der einen Bruder, einen Onkel oder einen Bekannten, der mit einem früheren Sträflingstransport hierhergekommen war, in einem der Boote entdeckte. Moira kam es vor wie eine einzige große Familienzusammenführung. Sie konnte auch ein paar langgestreckte Kanus erkennen, in denen jeweils zwei oder drei dunkelhäutige Menschen saßen. Ein Kanu hatte neben der Minerva angelegt, und zwei Eingeborene kletterten ungeniert an Bord.
Moira bemerkte, dass einige der weiblichen Passagiere schockiert den Blick abwandten, und sah nun erst recht genauer hin. Die beiden Männer waren von dunkler, fast schwarzer Hautfarbe und vollkommen nackt. Der Körper des Jüngeren war sehnig, der des Älteren kräftig. Beide hatten lockiges schwarzes Haar, das bei dem Älteren bereits ins Graue überging, und trugen punktförmige Tätowierungen am Oberkörper. Als der Jüngere lächelte, konnte Moira sehen, dass ihm die oberen Vorderzähne fehlten.
Es war ein seltsames Land, in das es sie verschlagen hatte. Alles war so neu, so fremd, so unvertraut. Zaghaft lächelte sie zurück und hob eine Hand zum Gruß.
*
Flirrende Hitze lag über dem Hafen, in dem jetzt insgesamt sieben Schiffe ankerten. Der Himmel war von einem grenzenlosen Blau, so intensiv, wie Moira es noch nirgends gesehen hatte. Sie wischte sich ein paar Schweißtröpfchen von der Stirn und lüftete verstohlen den Stoff über ihrem Ausschnitt, der feucht an ihrer Haut klebte. Sie trug ihr leichtestes Musselinkleid, das unter der Brust mit einem hellen Seidenband gerafft wurde, und glaubte dennoch zu zerfließen. Sehnsüchtig blickte sie hinüber zum Land, das so nah und doch so fern schien. Sobald die lästige Verteilung der Sträflinge vorüber war, würden sie endlich von Bord gehen können. Moira hatte einen der wenigen schattigen Plätze unter einem aufgespannten Segeltuch ergattert und fächelte sich Luft zu. Die meisten der anderen Passagiere zogen es vor, in ihren Kabinen zu bleiben, aber Moira konnte das Eingesperrtsein einfach nicht mehr ertragen.
Das Deck war noch nie so voll gewesen wie an diesem glühend heißen Mittag. Ein steter, leiser Geräuschpegel von murmelnden Stimmen, dem Knarren der Taue, dem Scharren von Füßen war zu hören. Seit einer Stunde befanden sich etliche Offiziere des New South Wales Corps von Sydney sowie einige zivile Persönlichkeiten an Bord, die zur Musterung der Sträflinge gekommen waren. Die roten Uniformröcke der Offiziere wiesen dunkle Schweißflecken unter den Armen und am Rücken auf.
Die weiblichen Gefangenen standen zusammen, die Körper verschwitzt, die Gesichter rot vor Hitze. Das Mädchen, dem Moira die Orange zugesteckt hatte, lehnte in Moiras Nähe an einer Taurolle und betrachtete das Geschehen mit einer Mischung aus Erleichterung und Angst auf seinem farblosen Gesicht. Sie hieß Ann, Ann Hutchinson, wie Moira von Zahlmeister Cox erfahren
Weitere Kostenlose Bücher