Das Lied der roten Erde (German Edition)
ihr nicht sonderlich behagte.
Sie strich sich über ihren Haaransatz, an dem sich mittlerweile eine gewaltige Beule entwickelt hatte. »Und … der Sträfling?«
McIntyre lächelte. Er wirkte gar nicht mehr so griesgrämig wie sonst. »O’Sullivan? Ein anständiger Kerl, der Junge. So viel Einsatz muss belohnt werden. Er wird ab morgen für uns arbeiten. Sergeant Penrith hat meinem Antrag schon stattgegeben. Wir haben schließlich Anrecht auf einen weiteren Sträfling. Er wird im Kutschenhaus schlafen und sich um alle anfallenden Arbeiten außer Haus kümmern. Außerdem kann er mir bei meinen Forschungen zur Hand gehen.«
7.
Vieles hatte sich geändert.
Die Geister der Ahnen schwiegen. Es lag nicht lange zurück, dass Ningali mit ihnen hatte sprechen, ihre geheimen Gedanken wahrnehmen, ihren verborgenen Wegen nachspüren können. Aber jetzt waren sie verstummt. Als hätten sie beschlossen, Ningali nicht mehr teilhaben zu lassen am großen Ganzen.
Die Männer, die Ningali fast jeden Tag beobachtete, rissen die Bäume aus, die für alle Zeiten die Pfade der Ahnen begleitet hatten, schufen neue Wege und neue Flächen. Aus der Erde wuchsen dann fremde Pflanzen. Ningali verstand die Weißen nicht. Dieses Land ernährte sie doch auch so. Wer Hunger hatte, der jagte oder grub nach Wurzeln und sammelte Beeren. Niemand musste dafür das Land verändern.
Der Vater war jetzt oft weg, öfter noch als sonst. Die Großmutter sagte, er sei einer derjenigen, die sich dem großen Krieger Pemulwuy angeschlossen hatten, um die Fremden zu vertreiben. Ningali wusste nicht, ob es richtig war, was der große Krieger tat. Aber in der letzten Zeit hatte sie vieles gesehen. Vieles, was sie erschreckte. Die Weißen waren ein barbarisches Volk. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie wieder gingen.
Aber nicht alle Fremden waren so. Mo-Ra war freundlich. Mo-Ra, deren reine, weiße Haut so anders war als ihre eigene. Sie hatte Ningali etwas zu essen geschenkt und sogar einen neuen Namen. Die Weißen mussten immer allem einen Namen geben.
Niemand wusste von Ningalis Ausflügen hierher. Nicht einmal die Großmutter, die doch eine weise Frau war. Und wenn sie es doch wussten, dann kümmerten sie sich nicht darum. So hielten sie es seit Urzeiten. Wen der Drang zu gehen überkam, der musste ihm nachgeben. Aber Ningali wollte nicht gehen. Sie wollte zu ihm, dem Mann mit den Augen wie der Wald bei Dämmerung.
Sie hatte ihn beobachtet, seit er hier angekommen war, hatte ihm aus dem Schutz der Bäume heraus zugesehen, wie er mit den anderen den Boden bearbeitete. Manchmal hatte sie sich ihm gezeigt, nur um zu sehen, was geschehen würde. Hatte gewartet, dass er sich ihr offenbarte. Aber er tat es nicht. Sollte sie sich getäuscht haben? War er doch keiner der Ahnengeister? Aber was war es dann, was ihn mit diesem Land verband? Oder zumindest mit ihr, Ningali?
Doch die Geister der Ahnen schwiegen.
*
»Der Schuft kann von Glück reden, dass er einen so milden Richter gefunden hat«, knurrte McIntyre und lehnte sich in dem offenen Zweisitzer zurück. »Im Gericht von Sydney hätte man ihn möglicherweise zum Hängen verurteilt!«
In Sydney machte man wenig Federlesens mit Verbrechern. Noch immer sprach man von jenem Tag vor zwei Wochen, als Gouverneur Hunter zwei wegen Raubes Verurteilte zum Galgen hatte führen lassen. Erst mit der Schlinge um den Hals hatten sie von ihrer Begnadigung erfahren – ein heilsames Exempel für alle zukünftigen Straftäter.
Die Kutsche rollte über die sandige Straße, die von Parramatta nach Toongabbie führte. Der Himmel war ein wolkenloses tiefes Blau, die Luft flimmerte vor Hitze. Auch wenn der Anlass eine so unerfreuliche Sache wie die Verhandlung gegen Oberaufseher Holligan gewesen war, so genoss Moira doch die kurze Fahrt.
McIntyre fuhr sich mit einem Taschentuch über das rote, verschwitzte Gesicht und steckte es wieder in seinen Rockärmel. »Ich will nur hoffen, dass der neue Gouverneur ähnlich streng vorgeht gegen dieses Gesindel.«
In der Tat sprach jeder von der Ankunft des zukünftigen Gouverneurs. Vor wenigen Tagen war Philip Gidley King in Sydney gelandet. Der amtierende Gouverneur Hunter war abberufen worden und würde demnächst nach England zurückkehren.
»Der neue Gouverneur soll seine Familie mitgebracht haben. Seine Frau und seine jüngste Tochter«, sagte Moira und brachte damit ihr neuestes Wissen an, das sie
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