Das Lied der roten Erde (German Edition)
aufgeschnappt hatte, während sie auf die Verhandlung warten mussten. »Wie es Mrs King hier wohl gefallen wird? Immerhin ist sie die erste Frau eines Gouverneurs, die ihren Gemahl begleitet.«
»Sie wird sich hier einleben, genau wie alle anderen Frauen auch«, brummte McIntyre. Er klappte seine silberne Schnupftabaksdose auf, nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger und beförderte sie in sein Nasenloch.
Moira lauschte seinen nachfolgenden Tiraden nur mit halbem Ohr. Trotz – oder vielleicht auch wegen – des aufregenden Vormittags fühlte sie sich ungewohnt beschwingt. Verstohlen blickte sie an McIntyre vorbei auf den Sträfling vor ihr auf dem Kutschbock. Er trug ein neues Leinenhemd und fuhr den Einspänner mit sicherer Hand. Seit einigen Tagen war er jetzt bei ihnen. Duncan O’Sullivan. Duncan. Ein Name, der sie an die dunklen Moore und Torffeuer der alten Heimat erinnerte. Moira bekam ihn nur selten zu Gesicht. Seit er bei ihnen war, hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Dazu hatte sich einfach noch nicht die Gelegenheit ergeben.
Er lenkte die Kutsche schweigend, den Blick nach vorne gerichtet. Moira musste lächeln, als sie an seinen Auftritt vor dem Friedensrichter dachte. Man hatte ihm nicht angesehen, wie unwohl er sich fühlen musste, als er seine Aussage machte. Ganz im Gegensatz zu Holligan, der von seinem anfänglichen Hochmut bald zu verzweifeltem Leugnen gewechselt war. Dem Oberaufseher erneut gegenüberstehen und seine Lügen anhören zu müssen hatte ihr Blut zum Kochen gebracht. Angeblich sei er Moira behilflich gewesen. Er habe ihr gerade Wasser gereicht, als ihn der Sträfling hinterrücks und in der Absicht, ihn umzubringen, angegriffen habe. Nur mit Mühe hatte Moira sich während dieser infamen Behauptungen zurückhalten können. Erst danach hatte sie erklären dürfen, was wirklich zwischen ihr und dem Mann vorgefallen war. Da O’Sullivan ihre Aussage bestätigte, wurde Oberaufseher Holligan degradiert und zu hundert Schlägen und einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die körperliche Züchtigung würde man in den nächsten Tagen in Parramatta vollziehen.
Der in dieser Verhandlung zuständige Laienrichter, von Beruf eigentlich Schuhmacher, war ein gerechter Mann. Auch O’Sullivan wurde zur Verantwortung gezogen. Da er sich unerlaubt von der Arbeit entfernt hatte, verurteilte man ihn zu einer geringen Geldstrafe, die McIntyre als sein Dienstherr für ihn zahlen musste. Damit war der Fall erledigt.
*
Das Haus wirkte verlassen. McIntyre war wieder in seinem Studierzimmer, und Ann war zu dem kleinen Laden gegangen, der die Dinge des täglichen Bedarfs ausgab. Moira stand vor der Küchentür. Sie zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie hatte etwas zu erledigen. Etwas, was sie längst hatte tun wollen.
Die Küche war der einzige Raum im Haus, den O’Sullivan betreten durfte. Hier nahm er seine Mahlzeiten ein. Sonst hatte er sich draußen oder im Kutschenhaus aufzuhalten.
O’Sullivan war tatsächlich da. Ihn ohne Fesseln und in einem sauberen Hemd zu sehen war noch immer ungewohnt für sie, aber das war es nicht, was sie erstaunte. Er saß an dem einfachen Küchentisch, einen leeren Teller vor sich, und hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, in das er völlig versunken war. Sie erkannte das Buch sofort: Es war ihre Bibel.
Er bemerkte sie erst, als sie die Tür hinter sich schloss, und sah auf; nicht wirklich erschrocken, eher, als hätte sie ihn aus einem Traum gerissen. Er legte das Buch der Bücher auf den Tisch und erhob sich schnell. »Ma’am.«
»Das ist meine Bibel.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, denn plötzlich war sie von einer seltsamen Scheu ergriffen. Ihre Kopfhaut prickelte, als wäre sie ohne Hut zu lange in der Sonne gewesen.
»Das wusste ich nicht«, gab er zurück. »Sie lag hier auf der Bank.«
Richtig, jetzt erinnerte sie sich wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen, sich am heutigen Morgen mit der Lektüre der Heiligen Schrift abzulenken, war sie ziellos durch das Haus gewandert. Sie hatte das Buch wohl in der Küche liegenlassen.
»Ihr könnt lesen?« Die meisten Sträflinge konnten nicht einmal ihren Namen schreiben, geschweige denn ein Buch lesen.
Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann schloss er ihn wieder, als hätte er seine Antwort im letzten Moment heruntergeschluckt, und nickte. »Was kann ich für Euch tun, Ma’am?«
»Was Ihr … Oh,
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