Das Lied der roten Erde (German Edition)
rechten Zeigefinger auf der Seite entlang. Dann erst blickte er nach unten.
»›Alle, die vorübergehen, klatschen in die Hände, pfeifen und schütteln den Kopf über die Tochter Jerusalem: Ist das die Stadt, von der man sagte, sie sei die allerschönste, an der sich alles Land freut?‹« Er las langsam, so wie jemand, der es erst spät gelernt hat.
»Das ist schön«, sagte Moira. »Gebt sie mir. Ich will es auch versuchen.«
Sie sah ihn an, dann schloss sie die Augen. Schlug die Bibel blind auf, tippte auf eine Stelle und öffnete die Augen wieder. »›Meinem –‹«, begann sie, dann brach sie ab. Ihre Wangen glühten. Hastig schlug sie das Buch zu.
»Das gilt nicht!« O’Sullivans Augen glitzerten. »Ihr müsst schon alles vorlesen!«
»Ich glaube nicht, dass Ihr in der Position seid, mir Vorschriften machen zu können«, gab Moira zurück. Sie spürte, wie die Röte bis zu ihrem Haaransatz kroch. »Nein, das ist meine Bibel, und ich darf es noch einmal versuchen.« Sie schlug eine andere Stelle auf und tippte erneut. »Hier. Das ist besser: ›Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.‹«
Sie hob den Blick. Hatte er sie etwa die ganze Zeit beobachtet?
»Was wolltet Ihr nicht vorlesen?«
»Das geht Euch nicht das Geringste an«, verkündete sie bestimmt und zwang das übermütige Glucksen zurück, das in ihrem Hals aufsteigen wollte. Sie schob die Bibel über den Tisch. »Ihr seid dran.«
Moira musste später noch lange an diesen Mittag denken. Wie O’Sullivan sie angesehen hatte mit diesen moosgrünen Augen. An die unbeschwerte Leichtigkeit, die sie in seiner Gegenwart empfunden hatte. Aber auch, dass er eine ihrer Fragen nicht beantwortet hatte: Wieso hatte er so viel riskiert, um ihr zu helfen? Und als sie in dieser Nacht die Augen schloss, um McIntyres Beischlaf über sich ergehen zu lassen, kehrten ihre Gedanken zu den Zeilen aus dem Hohelied Salomons zurück. Jenen Zeilen, die sie nicht vorgelesen hatte und die ihr Herz selbst jetzt noch flattern ließ wie ein aufgeregtes Vögelchen: »Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen.«
*
Das Geräusch schlich sich wie ein Dieb in seinen Schlaf, ein Laut wie ein feines Kratzen. Duncan hielt an seinem Traum fest, wollte ihn nicht gehen lassen, wollte wieder zurückfallen in den wohligen Schlummer.
Dann war er mit einem Mal hellwach. Das Geräusch kam von unten, wo die Pferde standen. Die Tiere schnaubten unruhig. Er richtete sich im knisternden Stroh auf und lauschte. Jemand hatte die Tür des Kutschenhauses geöffnet. Einer der Eingeborenen? Das war einer der Gründe, weshalb man die Pferde nachts einschloss und ihn hier schlafen ließ. Als Aufpasser, damit die Schwarzen sich nicht daran vergriffen. Oder war es jemand anderes? Für einen winzigen Moment malte er sich aus, es wäre sie, Mrs McIntyre mit den kristallblauen Augen …
»Duncan?«, flüsterte es in die Stille.
Fitzgerald!
Schnell kletterte Duncan die schmale Leiter hinunter, die vom Heuboden nach unten führte. Durch die offene Tür konnte er den zunehmenden Mond am Himmel sehen. Nein, er nahm ab – die Mondphasen waren hier auf der Südhalbkugel umgedreht. Hütten und Häuser lagen in bläulichem Schimmer, vor ihm ragte ein riesenhafter dunkler Schemen auf, die Haare im Mondlicht ein fahles Rot. Die kurze Kette aus Eisengliedern, die seine Handfesseln verband, war durchtrennt worden.
»Was tust du hier?« Duncan zog den Hünen hinein und schloss die Tür.
Samuel bleckte triumphierend die Zähne; sie schimmerten im schwachen Licht, das durch die Fensteröffnungen drang. »Wonach sieht es denn aus? Es hat verdammt lange gedauert, aber jetzt ist die Kette endlich durch. Ich haue ab. Kommst du mit?«
»Wenn sie dich erwischen, werden sie kurzen Prozess mit dir machen.«
Samuel schnaubte verächtlich. »Sollen sie es doch versuchen. Alles ist besser als so ein Leben. Ich habe nicht so ein Glück wie du. Für mich heißt es weiter schuften und sich schikanieren lassen. Bis ich tot umfalle. Und wieso sollte ich mir das antun, wo ich doch in ein paar Tagen in China sein kann?«
»Du willst nach China?«
Samuel nickte. Fast jeder Gefangene sprach von dem wundersamen Land, das nur
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