Das Lied der roten Erde (German Edition)
Bauch weckten, wenn er nur an sie dachte. Nein, das war keine gute Idee. Er dachte viel zu oft an sie. Entschlossen drängte er sie aus seinem Kopf.
»Vater unser …«, begann er wortlos. Ja, das würde gehen. Beten hatte bisher fast immer geholfen.
»Der Du bist im Himmel …«
Erneut fasste er den Löffel an der Kuhle und lehnte sich mit dem Rücken an einen Heuhaufen; bei einem seiner ersten Versuche hatte er das versäumt und den Löffel fast verschluckt. Dann legte er den Kopf in den Nacken und probierte es aufs Neue.
So hatte er es schon immer getan. Abhärtung durch Gewöhnung. Duncan hatte früh gemerkt, dass er anders war. Er empfand vieles intensiver als die meisten Menschen. Wo andere nur Vogelzwitschern hörten, vernahm er die Vielfalt der einzelnen Klänge. Wo andere nur den Wind spürten, konnte er seine Düfte schmecken. Krach oder Missklang waren ihm zutiefst zuwider. Auf der Jagd oder im Umgang mit Tieren war diese erhöhte Sensibilität sicher nützlich, aber nicht bei den Dingen des täglichen Lebens. Dort war es nur von Nachteil, wenn man auf jeden Reiz so stark reagierte.
Er hatte es gehasst. Und das Einzige getan, was ihm übrigblieb: sich daran gewöhnt. Sich abgehärtet, indem er sich den unterschiedlichsten Reizen immer wieder aussetzte. Er hatte beharrlich geübt und sich nicht geschont. Aber an Tagen wie diesen wünschte er sich, aus etwas einfacherem Holz geschnitzt zu sein.
»… und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
Würgend ließ er den Löffel ins Stroh fallen. Zwei Vaterunser! Es war ihm zwei Vaterunser lang gelungen, den Brechreiz zu unterdrücken und stillzuhalten – auch wenn er ein wenig geschummelt hatte und durch das Gebet gerast war, als wäre der Teufel hinter ihm her. Sein Herz klopfte hart gegen seine Rippen, und seine Kehle fühlte sich an wie aufgescheuert, aber der Triumph wog das wieder auf. So lange hatte er noch nie durchgehalten.
Bis zum Frühstück war noch Zeit. Entschlossen griff er erneut nach dem Löffel. Ob er auch drei Vaterunser schaffte?
*
Es würde bald wieder regnen. Der Sonnenschein des Morgens war hinter dicken Wolken verschwunden, der Weg zu den Sträflingshütten war übersät mit tiefen Pfützen, es roch nach regenschwerer Luft. Duncan trug die Arzttasche und lief schweigend neben dem Doktor, der ihn heute zum Krankenbesuch bei den Sträflingen mitnehmen wollte – angeblich, damit Duncan demnächst selbst ein paar kleinere Aufgaben für ihn erledigen konnte.
Duncans Blick wanderte zu dem mit niedrigen Büschen und Bäumen bestandenen Waldrand, hinter dem dichtes Gestrüpp wuchs. Er machte sich Sorgen um das Eingeborenenmädchen. Große Sorgen. Seit dieser verrückte Major auf sie geschossen hatte, hatte er sie nicht mehr gesehen. Sobald die Soldaten abgezogen waren, hatte er auf Anordnung des Lagerverwalters zusammen mit einigen Aufsehern den angrenzenden Busch durchsucht. Sie hatten nichts gefunden. Das Mädchen war und blieb wie vom Erdboden verschluckt, und auch der Dingo tauchte nicht mehr auf. Ob sie schwer verletzt war? Hoffentlich ging es ihr gut.
July. So hatte Mrs McIntyre das Buschkind gerufen. Ein schöner Name. Mrs McIntyre teilte seine Sorgen. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, blickte sie ihn fragend und hoffend an, und jedes Mal musste er den Kopf schütteln.
Wenigstens eine, der das Mädchen etwas bedeutete. Der Doktor dagegen schien das alles schon vergessen zu haben. Bisher hatte McIntyre die Vorfälle mit dem Major mit keinem Wort erwähnt. Weder den Schuss auf July noch die Tatsache, dass er, Duncan, um ein Haar erschossen worden wäre. Mrs McIntyre war die Einzige gewesen, die sich für ihn eingesetzt hatte. In ihren Augen hatte er Angst gesehen. Angst um ihn? Dann war er ihr wohl nicht vollkommen gleichgültig …
»Die Woche ist fast um«, riss ihn McIntyre aus seinen Gedanken. »Wie kommst du voran?«
»Gut«, gab Duncan nicht ganz wahrheitsgemäß zurück. Seine Kehle war so rau, dass er jedes überflüssige Wort vermied.
McIntyre nickte. »Schön. In den nächsten Tagen werden wir es erneut versuchen.«
Jetzt verstand Duncan den Sinn dieses Krankenbesuchs. Es ging nicht nur darum, den Doktor zu entlasten. Duncan sollte sehen, was ihn erwartete, falls er den Doktor wieder enttäuschte. Als ob das nötig gewesen wäre.
Sie hatten die etwas abseits stehende Krankenhütte noch nicht ganz erreicht, als Duncan etwas Unerwartetes vernahm; jemand sang mit
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