Das Lied der roten Erde (German Edition)
lag ein Farmgebäude, umgeben von abgeernteten Getreidefeldern.
»Und dann – er, mein Dienstherr …« Ann stockte, holte Luft, dann fing sie wieder an, als sei es ihr ein tiefes Bedürfnis, davon zu erzählen. »Er … er ist eines Nachts zu mir gekommen. Aber ich … ich wollte das nicht.« Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Ich habe angefangen zu schreien. Da … da ist er zum Glück gegangen. Aber am nächsten Tag … da hat er behauptet, ich … ich hätte ihn bestohlen. Ein Tischtuch. Und dann … dann kamen die Konstabler und haben mich mitgenommen.«
Duncan hatte schon viele solcher Geschichten gehört. Sobald ein Dienstmädchen die Gunst seiner Herrschaft verlor, war es ihr schutzlos ausgeliefert. Niemand zweifelte das Wort eines ehrenhaften Bürgers an.
In die regenfeuchte, von Eukalyptusduft durchzogene Luft mischte sich der Geruch von Salz und Fisch.
»Kannst du es riechen?«, fragte Duncan.
»Was?«
»Das Meer. Wir sind gleich da.«
Ann schüttelte den Kopf und versank wieder in brütendes Schweigen. Als ihnen kurze Zeit später ein weiterer Karrenwagen entgegenkam, rückte sie jedoch ein klein wenig näher zu ihm. Duncan verkniff sich ein Grinsen. Andere Menschen waren für sie offenbar noch schlechter zu ertragen als er.
*
»Ein Waisenhaus? Das ist ein wundervoller Plan, Mrs King.« Catherine Crowley bekam leuchtende Augen. »Die armen Kinder haben ja niemanden. Wenn ich mir vorstelle, dass meine drei Jungen ohne Eltern aufwachsen müssten – ein entsetzlicher Gedanke.«
Sie warf einen Blick zum Buffet, wo ihr Ältester, ein aufgeweckter Junge von zehn Jahren, mithalf, die Reste des Essens in große Schüsseln zu packen. Auf den Tellern und Platten türmten sich die Überbleibsel von Kängurubraten und Rinderfilet, von Brot, Kuchen und Früchten. Gerade klaubte die dicke Mrs Zuckerman eine mächtige Scheibe Braten von einem Tablett auf ihren Teller. Man hätte meinen können, dass sie zu Hause nichts zu essen bekam.
»Wir sollten sofort einen Spendenaufruf starten. Meinst du nicht auch, D’Arcy?« Catherine Crowley, ehemalige Strafgefangene und Mutter von Wentworths Kindern, blickte sich zu ihm um. Ihr stupsnasiges Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen war nicht wirklich hübsch zu nennen, aber in ihren blauen Augen blitzte der Schalk. Sie passte gut zu Wentworth, fand Moira.
»Eure Pläne in allen Ehren, Mrs King, aber der Wiederaufbau des Gefängnisses hat zurzeit oberste Priorität.« Der Lagerverwalter von Toongabbie, William Penrith, zog seinen etwas zu eng sitzenden roten Uniformrock gerade. »Und das nur, weil gewissenlose Schurken das Zuchthaus von Sydney niedergebrannt haben. Solange sich so viele Verbrecher auf freiem Fuß befinden, ist unser aller Sicherheit in Gefahr. Die meisten Herren hier sind dafür, zu diesem Zweck ein Komitee zu gründen.«
»Aber Sergeant, wer will denn an einem so schönen Abend über so garstige Dinge nachdenken?« Wentworth schüttelte in gespieltem Tadel den Kopf. Er verströmte einen schwachen Geruch von Pfeifenrauch.
Er hatte nicht zu viel versprochen: Die Dinnerparty, die er alljährlich Ende Juni zum Jahrestag seiner Ankunft in Neusüdwales veranstaltete, war ein gesellschaftliches Großereignis. Alle, die in der jungen Kolonie Rang und Namen hatten, waren hier versammelt, Militär wie Zivilisten, und hatten sich zu diesem Anlass entsprechend herausgeputzt. In einer Ecke des Raums stand Mr King, der künftige Gouverneur, im Gespräch mit einem schmalen, verkniffen wirkenden Männchen: Mr Zuckerman, der Ehemann der heute in helles Flieder gekleideten Steckrübe. Einige Schritte vom Buffet entfernt erblickte Moira ihren eigenen Mann mit Dr. Jamison, und im Hintergrund leider auch Major Penrith, zusammen mit Mr Macarthur und einigen anderen Offizieren.
Wentworths Farm in Parramatta war ein großer Holzbau inmitten eines Fleckens gerodeten Buschs und im Laufe der Zeit um verschiedene kleinere Anbauten erweitert worden. Als sie angekommen waren, hatte es bereits gedämmert. Hinter dem Haus breitete sich eine große Wiese aus, auf der im Sommer sicher Blumen wuchsen, davon abgeteilt ein Gemüsegarten. McIntyre hatte diese Einladung als unwillkommene Störung in seinem Tagesablauf betrachtet, aber selbst er war sich darüber im Klaren gewesen, dass sie nicht fernbleiben durften. Und so hatten sie sich am frühen Abend auf den Weg gemacht, zusammen mit O’Sullivan, der die Kutsche fuhr.
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