Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Jessica war zwölf Jahre alt, als sie mit ansah, wie die Angestellten kamen und ihn in einer Zwangsjacke fortbrachten, sabbernd und schimpfend wie ein Irrer, was er ja auch war. Das Ereignis hat einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen, und ich glaube, dass tief im Innersten – auch wenn sie es selbst mir gegenüber nie zugeben würde – sowohl sie als auch ihre Schwester Alison Angst haben, dass sie Henrys Schwäche geerbt haben könnten.«
»Es gibt keinen endgültigen Beweis dafür, dass Geisteskrankheit, oder genauer gesagt Schizophrenie, erblich ist, auch wenn es gelegentlich in manchen Familien eine Neigung zu geistiger Instabilität gibt. Ich werde mich mit den Einzelheiten von Henrys Fall vertraut machen. Aber bitte bedenke, dass das fast dreißig Jahre her ist. Die Psychiatrie hat seitdem große Fortschritte gemacht.«
Simons Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Gott sei Dank.« Erregt fuhr er sich durch die blonden Haare, die an den Schläfen langsam dünner wurden. »Himmel, ich wünschte, ich hätte das Rauchen nicht vor drei Jahren aufgegeben, ich könnte jetzt gut eine Zigarette brauchen.«
Nikko grinste ihn mitleidig an. »Du siehst ziemlich fertig aus, mein Junge. Warum gehst du nicht nach Hause? Du kannst hier sowieso nichts weiter tun. Geh nach Hause und schlaf dich erst mal aus. Die Oberschwester wird dich morgen anrufen und dir sagen, wie Jessica die Nacht verbracht hat, in Ordnung?«
Simon seufzte tief. Im Moment konnte er nichts tun, um Jessica zu helfen, doch der Gedanke, alleine in ihrem Stadthaus oder ihrem geräumigen Heim in Mandurah zu bleiben, behagte ihm überhaupt nicht. Dort lauerten jetzt viel zu viele unglückliche Erinnerungen. Mühsam erhob er sich vom Sessel.
»Du hast Recht. Wie immer. Wir werden morgen weiterreden. Gute Nacht.«
Rührei, Bohnen und Toast, hinuntergespült mit einer Dose Fosters. Nicht gerade eine kulinarische Spezialität, musste er zugeben. Jessica wäre entsetzt gewesen. Sie hatte das Talent, in der Küche aus praktisch nichts etwas Schmackhaftes zu zaubern. Derartige Fähigkeiten gingen ihm völlig ab, stellte er fest, als er sich mit einem verdrießlichen Kichern im Wohnzimmer in den Ledersessel sinken ließ, bevor er die Fernbedienung für den Fernseher betätigte, um sich die Abendnachrichten anzusehen.
Es fiel ihm schwer, die Stille im Haus nicht zu bemerken. Und die Einsamkeit. Viel zu groß, hatte er oft gedacht. Er kippte den letzten Rest Bier hinunter. Ganz anders als das Holzhaus mit den zwei Zimmern zehn Kilometer östlich von York, in dem er bei seinen Eltern aufgewachsen war. Mittlerweile waren beide tot.
Delia und Don Pearce waren Weizenfarmer gewesen, die es oft schwer gehabt hatten, je nachdem, ob es viel regnete – oder gar nicht. Er erinnerte sich noch daran, wie enttäuscht sie gewesen waren, als sie feststellen mussten, dass er ihre Liebe zum Land nicht geerbt hatte. Seine Leidenschaft waren von frühester Jugend an Bücher gewesen, Bücher jeder Art über alles und besonders alle Geschichten, die mit Medizin zu tun hatten. Nach Art der Kinder hatte er seine schlummernden medizinischen Fähigkeiten am gebrochenen Flügel einer Amsel ausprobiert und hatte ein Kalb mit einem gebrochenen Bein gesund gepflegt. Als sein Vater es schlachten wollte, hatte er verbissen um sein Leben gekämpft.
Sie hatten nicht genügend Geld, um sein Studium zu finanzieren, also hatte er die ganze Zeit nebenher gearbeitet, sich eine Wohnung mit anderen Studenten geteilt und drei Teilzeitjobs gleichzeitig gemacht, um die Studiengebühren, seine Bücher und seinen Unterhalt bezahlen zu können. Das war ein weiterer Grund, warum er große Häuser nicht gewohnt war, bis sie das in Mandurah bauten. Wieder kicherte er vor sich hin. Daher konnte er auch Rührei mit Bohnen kochen. Gelegentlich waren das seine Grundnahrungsmittel gewesen.
Nachdenklich wanderte sein Blick vom weichen Licht der Messinglampe auf dem Tisch durch den ganzen Raum. Die weiße Ledersitzgruppe war sehr stilvoll, der Marmorfußboden mit dem türkischen Teppich, der die Fußbodenheizung verdeckte, war teuer gewesen. Gemälde – Originale – ein Heyse, eine Bleistiftskizze von Brett Whiteley – hingen an der Wand und ergänzten die Schränke, in denen eine ganze Reihe Elektrogeräte untergebracht waren: Fernseher, Stereoanlage, CD-Spieler – alles von Jessica ausgewählt.
Seine Kollegen in der Medizin behaupteten, er habe alles Zubehör, das einen erfolgreichen Arzt
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