Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
ausmachte, was ihn insgeheim enorm befriedigte. Er hatte hart dafür gearbeitet, tat es immer noch, aber … vor seinem Auge tauchte Jessica auf, wie sie still und schweigend in ihrem Krankenhausbett lag. Er stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. Der Erfolg, das elegante Heim, die Aktienpakete, all das war keinen Pfifferling wert, wenn er daran dachte, wie sie so verletzlich dalag. Er musste den Tod seines Sohnes verschmerzen, und das würde er auch schaffen, aber gleichzeitig Jessica zu verlieren … Dann wäre er wirklich alleine, und … er wollte nicht alleine sein. Schon der Gedanke daran ließ ihn erschaudern.
Sie sollte hier bei ihm sein, dachte er plötzlich bitter. Sie hatten sich die Spätnachrichten immer zusammen angesehen. Und auch wenn es vielleicht egoistisch klang, für ihn kam Jessicas Zusammenbruch zu diesem Zeitpunkt äußerst ungelegen. Er wollte gerade in ein aufregendes Projekt einsteigen, ein Geriatrieprojekt für das 21. Jahrhundert, das sie bis an ihr Lebensende finanziell absichern würde. Niedergeschlagen grollte er in den leeren Raum. Das würde nun warten müssen, bis es Jessica wieder gut ging.
Während er mit halbem Ohr den Nachrichten lauschte, wanderten seine Gedanken zehn Jahre in die Vergangenheit, zu einer Silvesterparty in einer kleinen Wohnung in Chelsea …
Fast wäre er nicht zu Nikkos Party gegangen, doch nach einer sträflich langen Schicht in Sankt Pancreas allein in London zu bleiben, war keine vergnügliche Aussicht gewesen, ebenso wenig wie ein Abend in der Schachtel jener Pension zwei Blöcke nördlich des Krankenhauses, die er sein Zimmer nannte. Nikkos muffiges Bettsofa war voll besetzt, dicht an dicht drängten sich die Menschen in der Wohnung. Aus dem verkratzten Plattenspieler, den Nikko für zehn Mäuse auf dem nächsten Flohmarkt ergattert hatte, ertönte die Musik der späten Achtzigerjahre. Zusammen mit dem Lärm, den die vielen Leute machten, klang es wie in einem Bienenkorb.
Er sah auf die Uhr. 23:15 Uhr. Noch eine Stunde, dann würde er abhauen; wenn er Glück hatte, konnte er noch sechs Stunden schlafen, bevor er wieder zum Dienst musste. Unterdrückt gähnend hielt er sein lauwarmes Bier hoch und versuchte herauszufinden, ob es sich lohnte, sich für ein neues Glas zu der provisorischen Bar auf der anderen Seite des Zimmers durchzukämpfen.
In diesem Moment sah er sie, als ein Pärchen zur Seite trat. Sie lachte, das Gesicht dem Licht zugewandt. Sie wirkte so lebendig und durch ihre Sonnenbräune so gesund! Ganz offensichtlich kam sie nicht aus London. Nicht schön im eigentlichen Sinne des Wortes, aber ihre Lebendigkeit zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Durch den ständig dichter werdenden Dunstschleier, der seiner Meinung nach zu gleichen Teilen aus Zigarettenqualm und Hasch bestand, beobachtete er ihren Gesichtsausdruck, besonders aber ihre Augen. Er wünschte, er wüsste, welche Farbe sie hatten. Sie glänzten, während sie einem großen, rothaarigen Typen zuhörte. Wahrscheinlich erzählte er ihr irgendeinen Mist, um sie ins Bett zu kriegen.
Vorsichtig bahnte er sich mit den Ellbogen den Weg zu ihr. Aus der Nähe sah sie noch besser aus. Hohe Wangenknochen, hübsche Nase, auf jeden Fall nicht aristokratisch, da sie an der Spitze nach oben wies. Sie lächelte viel, stellte er fest. Irgendetwas – wahrscheinlich die Muskeln, die um ein lebenswichtiges Organ, sein Herz, lagen – verkrampfte sich. In seiner Kehle bildete sich ein Klumpen. Er atmete tief ein, hustete den Klumpen aus, nahm seinen Mut zusammen und sagte zu ihr: »Ich gehe gerade zur Bar, soll ich Ihnen etwas mitbringen?« Ihre Augen waren blau, so blau wie Kornblumen. Wunderschön.
Jessica Ahearne starrte den blonden Mann zu ihrer Linken an. Durch seinen intensiven Blick verwirrt, blinzelte sie. »Ja, danke. Wein. Weiß oder rot, ist egal.«
»Kommt sofort.«
Aus irgendeinem Grund fasziniert, blickte sie ihm nach, als er sich durch die Menge schob. Er war einen halben Kopf größer als alle anderen Partygäste. Nikko, der Gastgeber und einer ihrer Freunde seit der High School, versuchte, sich vorbeizudrängeln. »Wer ist der blonde Typ?«,
fragte sie ihn und wies mit dem Finger in Richtung Bar. »Der da.«
»Simon Pearce, Arzt in St. Pancreas«, informierte sie Nikko grinsend. »Kein Geld, keine Verbindungen, meine Liebe. Simon ist ein Junge vom Land irgendwo östlich von Perth. Lebt vom Geruch eines öligen Lumpens, wie man hört.«
»Du weißt ganz genau, dass ich
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