Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Sekunden erinnerte, die zwischen dem Telefonanruf von Max Lowe – der ihn, da er im Operationssaal gewesen war, verspätet erreicht hatte – und jetzt vergangen waren. Er hatte darauf bestanden, dass der Krankenwagen Jess ins Sanatorium Belvedere brachte, wo sie die beste Pflege bekommen würde. Er selbst war hierher gejagt, sobald er dem Assistenzarzt Anweisungen gegeben hatte, wie er seinen Patienten versorgen sollte.
Es hatte ihn fast alle Kraftreserven gekostet, mit Damians Tod fertig zu werden, besonders, da er sich selbst zum Teil die Schuld daran gab, dass er seinen kleinen Sohn nicht hatte retten können – auch wenn die Autopsie einen klaren Fall von plötzlichem Kindstod belegte. Tief im Inneren würde er immer glauben, dass er etwas hätte tun müssen. Plötzlich hob er den Kopf: Dachte Jess das etwa auch?
Jetzt war sie völlig zusammengebrochen. Gott, er war Arzt – warum hatte er die Anzeichen nicht bemerkt, dass sie nicht damit fertig wurde?
War er zu sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt gewesen, um zu sehen, dass sie in tiefe Depressionen verfiel, was schließlich zu diesem totalen emotionalen Zusammenbruch führte? Jessica, die immer so stark gewesen war! Es war schwer zu verstehen, obwohl er nur zu gut wusste, dass der Tod eines Kindes auch die Intelligentesten und Willensstärksten aus der Bahn werfen konnte, und … in Jess' Fall musste man zudem die Vererbung in der Familie berücksichtigen. Er seufzte auf. Himmel, noch eine Sorge mehr.
Er hörte, wie sich die Tür öffnete, und erhob sich, um Nikko die Hand zu schütteln.
»Wie schade, dass wir uns unter solchen Umständen treffen müssen, alter Kumpel«, begrüßte Nikko Simon und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Dunkelhäutig, mit schwarzen Haaren und einem verknitterten, schlecht sitzenden Anzug erschien Nikko wie das genaue Gegenteil seines Gegenübers. Geschäftig schob er Akten von einem Stapel auf den anderen, zog schließlich eine Mappe hervor und legte sie offen vor sich. Während er den Inhalt überflog, wechselte er ein paarmal den Gesichtsausdruck. Schließlich blickte er Simon an.
Simon wartete darauf, dass Nikko sprach. Er wusste, dass es sinnlos war, der Diagnose des angesehenen Psychiaters vorzugreifen.
»Wegen Jessica. Ich habe mich bislang nur kurz damit befassen können, für tiefer gehende Untersuchungen war sie viel zu aufgeregt.«
Da Nikko nur wenig sagte, füllte Simon die Lücken selbst aus. Wahrscheinlich hatte sie unzusammenhängendes Zeug geredet, war dann in Tränen ausgebrochen und in hilfloses, unkontrolliertes Gelächter, das eher wie das Gackern einer alten Frau klang als wie ein bewusstes, intelligentes Lachen. O ja, es war ohne Zweifel so schlimm gewesen.
Nikko sah Simon prüfend in das ausdruckslose Gesicht, bevor er fortfuhr: »Sie braucht Ruhe, Simon. Ich nehme an, dass sie nur sehr wenig therapeutischen Schlaf bekommen hat, seit … Damian gestorben ist. Ich habe ihr ein Sedativum verschrieben, das sie für etwa sechsunddreißig Stunden in Tiefschlaf versetzt. Das gibt ihrem Körper und ihrem Geist die Gelegenheit, sich zu entspannen. Dann werden wir weitersehen.«
»Verdammt noch mal, Nikko, geht es nicht ein bisschen genauer?«
»Ich fürchte, nein.« Nikko blickte auf, als er den angespannten Tonfall vernahm. Doch er konnte die Befürchtungen seines Freundes verstehen, zuckte mit den Schultern und kratzte sich die schwarzen Bartstoppeln am Kinn. »Ich kann dir keine Prognose geben, bevor ich nicht mit ihr gesprochen und festgestellt habe, wie tief ihr Schmerz sitzt. Das weißt du.«
»Also …?«
»Warten wir ab. Ich werde ihr eine Trauerberaterin zur Seite stellen, Penny Matheson. Sie ist die Beste. Sie wird mit Jessica arbeiten, wenn sie ruhig genug ist, um sich mit den schmerzhaften Aspekten von Damians Tod auseinanderzusetzen. Bis dahin können allerdings noch Wochen vergehen.« Er musterte seinen Freund – Jessica und Simon Pearce waren die Paten seiner Tochter – und schien plötzlich Mitleid mit ihm zu haben. »Simon, was Jessica durchmacht, ist nicht ungewöhnlich. Viele Frauen sind unter der Trauer über den Tod eines Kindes zusammengebrochen. Manchmal trifft es die Stärksten am härtesten …«
»Das weiß ich, aber ich mache mir ein wenig Sorgen wegen … nun, du weißt schon, ich habe doch ihren Großvater erwähnt. Viel weiß ich nicht von ihm, außer, dass der alte Henry Ahearne die letzen vier Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt verbrachte.
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