Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
das in Ordnung?«
Jessica nickte. Sie hielt die Lider gesenkt, bis Faith gegangen war. Dann wandte sie sich ganz langsam, fast unwillkürlich, zur goldgerahmten Fotografie ihres Sohnes. Blaue Augen, ihren eigenen sehr ähnlich, sahen ihr aus dem zweidimensionalen Bild entgegen. Er hatte Simons – seines Vaters – blonde Haare und dunkle Haut, und auch sein Lächeln. Damians Lächeln. Fest schloss sie die Augen, als sie der Schmerz wie mit Tentakeln ergriff. Sie zerrten an jedem Muskel, jeder Faser ihres Körpers. Sie konnte es nicht ertragen … Es gab kein Entrinnen vor diesem Schmerz, diesem Gefühl des Verlusts. Es nagte innerlich an ihr, zerstörte ihre Muskeln, ihr Gewebe, ihre Energie und lähmte ihre Fähigkeit, zu denken. Ihrer Kehle entrang sich ein dunkler, schluchzender Ton, den sie herunterschluckte, unerlöst. Sie musste es ertragen.
Fort, ihr Sohn. Und mit ihm jeder Funken Freude, alles zukünftige Glück, selbst ihr Lebenswille.
Leben. Sie schaukelte vor und zurück, schlang die Arme um den Oberkörper, als wollte sie den Schmerz umarmen, innen behalten, unter Kontrolle bringen. Das war doch kein Leben. Das war Überleben, und auch das nur gerade so. Und wozu? Ohne ihn war alles so sinnlos. Sie blinzelte schnell, als ihr dieser Gedanke kam. Wozu die Mühe?
Sie holte erneut tief Luft, und vor ihrem gequälten Geist stieg der süße Duft seiner Babyhaut auf, die Frische seines gewaschenen Haars. Hör auf, dir das anzutun! , sagte eine Stimme in ihrem Inneren. Diese Quälerei bringt dir nichts, wird zu nichts Nennenswertem führen!
Aber es gibt nichts Nennenswertes mehr , widersprach eine andere Stimme. Auf was sollte sie sich denn noch freuen können ohne Damian? Mit achtunddreißig, fast neununddreißig, würde sie keine weiteren Kinder mehr bekommen. Nach elf kinderlosen Ehejahren und drei Fehlgeburten war Damian für sie und Simon ein kleines Wunder gewesen. Außerdem würde niemand Damian ersetzen können. Er war etwas … Besonderes gewesen – ihr kleiner Sohn war es wert gewesen, so lange auf die Mutterfreuden zu warten. Mit einem erneuten tiefen Atemzug zwang sie sich, sich zu beruhigen …
Sie setzte die Brille wieder auf und las weiter. Mehrere Minuten lang konnte sie die Konzentration aufrechterhalten, doch als eine einzelne Träne über ihre Wange lief und auf das Papier tropfte, gab sie sich geschlagen und nahm die Brille ab. Ihre Hand griff nach dem Foto, das sie an die Brust presste, wo der Schmerz wohnte. Die Kühle des Glases und des Metallrahmens drang durch den dünnen Stoff ihrer Bluse an ihre Haut. Sie erinnerte sich daran, wie warm er sich angefühlt hatte, wie gerne er mit ihr gekuschelt hatte. Tränen strömten ihr über das Gesicht und fielen auf die Bluse.
Erinnerungen …
Lachen. Sein unsicherer Gang, seine paar Worte: »Dadda«, »da«, »Mama«.Wie anbetungswürdig er ausgesehen hatte, wenn er schlief oder sich völlig auf etwas konzentrierte, das ihn interessierte … Jessica schloss die Augen, während Myriaden von Bildern in ihr aufstiegen.
Der Schmerz wurde stärker, ihr Atem presste sich durch die von den Gefühlen verkrampften Lungenmuskeln. Mehr Schmerz. Vielleicht hatte sie einen Herzanfall. Gut. Dann würde der Schmerz ein Ende haben. Doch dann dachte sie an Simon, und ihre Trauer wurde noch größer, während sein Bild undeutlich vor ihren geschlossenen Augenlidern auftauchte. Simon. Was nutzte sie ihm denn noch? Sie funktionierte ja kaum noch, wollte es auch gar nicht. Sie wollte mit diesem Elend nicht leben. Wieder wiegte sie ihren Körper im Stuhl vor und zurück, während sich kleine Seufzer ihren Lippen entrangen und im Nichts verklangen. Schließ den Schmerz aus, schließ den Schmerz aus , intonierte sie ihr Mantra immer wieder. Schließ ihn aus. Für alle Ewigkeit.
Plötzlich riss etwas in ihrem Inneren, und ihr Körper erschlaffte …
Sekunden, vielleicht auch Minuten später öffnete Jessica wieder die Augen. Ihr Blick ging ins Leere, richtete sich auf nichts Bestimmtes. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, und eine gespenstische Ruhe überkam sie wie eine weiche Decke. Sie wusste, was sie tun musste. Damian, denk an Damian.
Sie stellte das Foto ihres Sohnes auf den Tischkalender, löste den Knoten, zu dem sie am Morgen ihre Haare aufgesteckt hatte, und legte die Haarnadeln fein säuberlich nebeneinander auf den Schreibtisch. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die kastanienbraunen Haare, deren Spitzen sich aufrollten, besonders bei feuchtem
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