Das Lied der Sirenen
sagte Carol. »Ich bin mehr für Ei auf Toast als für die feine Egon-Ronay-Küche. Mein Bruder hat alle Gourmet-Gene in unserer Familie auf sich vereinigt.« Sie schaute sich kurz um. Ihr Tisch für zwei Personen stand kaum mehr als dreißig Zentimeter vom nächsten entfernt. »Sind Sie absichtlich hierhergegangen, damit wir nicht über unsere Arbeit reden können? Eine Psychologen-Masche, damit ich mich geistig vom Dienst erholen kann?«
Tony sah sie erschrocken an. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Sie haben natürlich recht, hier können wir nicht über unseren Fall sprechen.«
Carol lächelte verschmitzt. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich das freut.«
Sie aßen einige Minuten weiter, ohne etwas zu sagen. Dann brach Tony das Schweigen. So behielt er die Kontrolle über das Thema.
»Was hat Sie zu der Entscheidung gebracht, Polizistin zu werden?«
Carol hob eine Augenbraue. »Ich war wild darauf, die Unterprivilegierten zu schikanieren und rassische Minderheiten zu drangsalieren.«
»Das nehme ich Ihnen ganz bestimmt ab.«
Sie schob ihren Teller zur Seite und seufzte. »Jugendlicher Idealismus. Ich hatte die verrückte Idee, daß die Polizei dazu da sein sollte, der Gesellschaft zu dienen und sie vor Gesetzesbrechern und der Anarchie zu beschützen.«
»Das ist keinesfalls eine verrückte Idee. Glauben Sie mir, wenn Sie mit den Leuten zu tun hätten, mit denen ich mich herumschlagen muß, dann wären Sie froh, daß es eine Institution gibt, die sie von der Straße holt.«
»Oh, in der Theorie ist das ja ganz schön, in der Praxis sieht es leider anders aus. Es begann, als ich Soziologie in Manchester hörte. Ich belegte ein Spezialseminar über ›Soziologische Strukturen in Organisationen‹, und alle meine Kommilitonen verachteten die Polizei als eine korrupte, rassistische, sexistische Organisation, deren Hauptfunktion es sei, der Ober- und Mittelschicht ein komfortables Leben zu sichern. Bis zu einem gewissen Grad stimmte ich dem zu. Der Unterschied zwischen uns war der, daß sie meinten, man müsse solche Organisationen von außen angreifen, während ich immer der Auffassung war, daß man eine fundamentale Veränderung nur von innen erreichen kann.«
Tony grinste. »Sie kleine Umstürzlerin!«
»Nun ja, jedenfalls habe ich damals nicht erkannt, auf was ich mich da einließ. Der Kampf David gegen Goliath war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Versuch, die Strukturen in der Polizei zu ändern.«
»Erzählen Sie mir davon«, sagte Tony interessiert. »Diese Einsatzgruppe, die ich da aufbaue, kann die Aufklärungsrate bei Schwerverbrechen erheblich steigern, aber einige führende Polizeibeamte wehren sich dermaßen dagegen, daß man meinen könnte, ich wollte heimlich Pädophile zu Kindergärtnern machen.«
Carol kicherte. »Sie meinen, Sie wären lieber wieder bei Ihren Beknackten in der geschlossenen Anstalt?«
»Manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre nie von dort weggegangen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie herzerfrischend es für mich ist, mit Leuten wie Ihnen und John Brandon zusammenzuarbeiten.«
Ehe Carol reagieren konnte, kam der Ober mit der Hauptspeise – Lamm in Spinat, Huhn-Karahi und Reis. Nach den ersten Bissen fragte Carol: »Haben Sie in Ihrem Beruf die gleichen Probleme mit freier Zeit fürs Privatleben wie wir bei der Polizei?«
Tony ging sofort in Verteidigungsstellung, indem er mit einer Gegenfrage reagierte: »Wie meinen Sie das?«
»Wie Sie neulich schon sagten, man wird von seiner Arbeit aufgefressen. Man verbringt seine Zeit mit Irren und Tieren …«
»Und das sind zum Teil ja auch die Kollegen«, warf Tony ein.
»Ja, richtig. Und dann kommt man nach Hause, nachdem man sich mit übel zugerichteten Leichen und zerstörten Leben beschäftigt hat, und es wird von dir erwartet, daß du dich hinsetzt und die Seifenopern im Fernsehen anguckst und dich verhältst wie jeder andere Mensch auch.«
»Und das kann man nicht, weil man den Kopf noch voll hat vom Horror des Tages«, ergänzte Tony. »Und in Ihrem Job kommt ja noch erschwerend hinzu, daß Sie Schichtdienst machen müssen.«
»Genau. Haben Sie auch solche Probleme mit dem Privatleben?«
Stellte sie diese Frage aus reiner Neugier, oder war das ein indirekter Weg, etwas über ihn herauszufinden? Manchmal wünschte Tony, er könnte den Teil seines Gehirns einfach ausschalten, der jede Aussage, jede Geste, jeden komplizierten Ausdruck der Körpersprache analysieren mußte.
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