Das Lied der Sirenen
daß der Mörder solche Verabredungen mit jedem seiner Opfer getroffen hat, entweder bei ihnen zu Hause oder woanders.
Er liebt die prickelnde Aufregung, die mit den Morden verbunden ist. Er braucht diese Stimulation.
In seiner Persönlichkeitsstruktur muß es Nischen emotionaler Reife geben, die es ihm erlauben, sich in diesen mit erheblichem Streß verbundenen Situationen unter Kontrolle zu halten. Dies mag auch dazu beitragen, daß er sich von dem sonst bei Serientätern oft anzutreffenden Muster abhebt, immer schlampiger bei der Begehung der Taten zu werden (s. unten).
Die meisten Serienmörder unterliegen einem Zwang zur Eskalation, der uns aufzeigt, daß sie eine Steigerung des Nerven-
kitzels brauchen, ein besseres Umsetzen ihrer Phantasien in die Realität. Wie bei einer Achterbahn muß jeder Scheitelpunkt höher sein als der vorherige, um den unvermeidlichen Tiefpunkt, der vorangegangen ist, zu kompensieren …
Tony zuckte zusammen. Was war das für ein Geräusch? Es hatte geklungen, als ob eine Tür geöffnet worden wäre. Nervös schob Tony sich vom Computertisch weg und steuerte den Stuhl auf leisen Rollen über den Teppich hinter seinen Schreibtisch, wo er außerhalb des Lichtkegels der Lampe neben dem Computer war. Er hielt den Atem an und horchte. Stille. Er begann sich schon wieder zu entspannen, da erschien plötzlich ein Lichtstreifen unter der Tür zu seinem Büro.
Eisige Angst packte Tony. Der Gegenstand auf dem Schreibtisch, der einer Waffe am nächsten kam, war ein Achatstein, den er als Briefbeschwerer benutzte. Er nahm ihn in die Hand und erhob sich so leise wie möglich.
Als Carol die Tür öffnete, war sie völlig verblüfft, Tony auf halbem Weg zur Tür mit einem Stein in der Hand auf sie zukommen zu sehen. »Ich bin’s!« schrie sie.
Tony ließ die erhobene Hand sinken. »Oh, verdammt«, sagte er. Carol grinste. »Wen haben Sie denn erwartet? Einbrecher? Journalisten? Den schwarzen Mann?«
Tony entspannte sich. »Tut mir leid. Da versucht man den ganzen Tag in den Kopf eines Beknackten einzudringen, und dann ist man genauso paranoid wie er.«
»Beknackter, aha. Ist das eine wissenschaftliche Bezeichnung, die ihr Psychologen benutzt?«
»Nur innerhalb dieser vier Wände«, antwortete Tony, ging zurück zu seinem Schreibtisch und legte den Achatstein wieder an seinen Platz. »Was verschafft mir das Vergnügen?«
»Da die British Telecom nicht in der Lage zu sein scheint, eine Verbindung zwischen uns beiden zustande zu bringen, dachte ich mir, ich komme persönlich vorbei«, antwortete Carol und setzte sich. »Ich habe heute morgen eine Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter zu Hause hinterlassen. Ich dachte, Sie seien schon zur Arbeit gegangen, aber hier waren Sie offensichtlich auch nicht. Dann habe ich es ungefähr um vier noch mal versucht, doch der Mann an der Vermittlung sagte, es würde sich niemand melden. Auf mein Drängen hin erklärte er sich schließlich bereit, mich durchzustellen, aber es nahm tatsächlich niemand ab. Und jetzt ist die Vermittlung natürlich nicht mehr besetzt, und ich habe nicht daran gedacht, mir die Nummer Ihres Apparats geben zu lassen, um direkt durchwählen zu können.«
»Und Sie wollen eine Kriminalbeamtin sein?« hänselte Tony sie.
»Jedenfalls ist das meine Entschuldigung. Um die Wahrheit zu sagen, es hat mich keine Minute mehr in der Scargill Street gehalten.«
»Wollen wir darüber reden?«
»Nur, wenn ich mit vollem Mund sprechen darf«, sagte Carol.
»Ich sterbe vor Hunger. Könnten wir irgendwo schnell was essen?«
Tony sah auf den Bildschirm, dann auf Carols abgespanntes Gesicht und in ihre müden Augen. Er mochte sie, auch wenn er ihr nicht zu nahe kommen wollte, und er brauchte sie bei diesem dienstlichen Projekt auf seiner Seite. »Ich speichere schnell noch diese Datei ab, dann verschwinden wir. Ich kann das nachher auch noch abschließen.«
Zwanzig Minuten später beschäftigten sie sich eifrig mit Zwiebel-Bhajias und Hühnchen-Pakora in einem Asia-Schnellrestaurant in Greenholm. Die anderen Gäste waren Studenten, darunter auch solche, die schon eine Menge Semester auf dem Buckel hatten und sich noch nicht ganz darüber im klaren waren, daß sie im Grunde nichts anderes mehr studierten als Anpassung an die Gegebenheiten des Lebens. »Das Restaurant steht nicht im Feinschmeckerführer, aber das Essen ist preiswert und abwechslungsreich, und man hat es schnell auf dem Tisch«, entschuldigte sich Tony.
»Mir gefällt es«,
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