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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Warum konnte er sich nicht einfach dem Vergnügen hingeben, mit jemandem zu essen und zu plaudern, der seine Gesellschaft zu schätzen schien? Er merkte plötzlich, daß eine zu lange Pause zwischen Carols Frage und seiner Antwort entstanden war, und so sagte er rasch:
    »Ich kann wahrscheinlich noch schlechter abschalten als Sie. Männer sind viel häufiger von bestimmten Dingen besessen als Frauen. Ich meine, wie viele weibliche Modelleisenbahn-Fans, Briefmarkensammler oder Fußballfanatiker kennen Sie?«
    »Und das wirkt sich störend auf Ihre persönlichen Beziehungen aus?« ließ Carol nicht locker.
    »Nun, keine meiner Beziehungen hat lange bestanden«, antwortete Tony und kämpfte darum, seine Stimme unbefangen klingen zu lassen. »Ich weiß nicht, ob das vornehmlich auf meinen Job oder auf mich selbst zurückzuführen ist. Meistens waren die letzten Worte, die sie mir in der Tür noch zuriefen, nicht ›du und deine verdammten Beknackten‹, also nehme ich an, daß es an mir liegt. Und wie ist es bei Ihnen? Wie werden Sie mit den Problemen Ihres Jobs fertig?«
    Carol kaute fertig und schluckte, ehe sie antwortete. »Ich habe herausgefunden, daß Männer wenig Verständnis für Schichtdienst haben, es sei denn, sie sind selbst auch darin eingespannt. Wissen Sie, man ist dann nie mit der Tasse Tee zur Stelle, bevor sie zum Squash spielen davoneilen. Wenn man die Schwierigkeit dazurechnet, ihnen Verständnis dafür abzuringen, daß einem der Job dauernd im Kopf steckt, wer bleibt dann noch übrig? Assistenzärzte, andere Cops, Feuerwehrmänner, Krankenwagenfahrer. Und nach meiner Erfahrung gibt es nicht viele, die eine Beziehung mit jemandem eingehen wollen, dem es so geht wie ihnen selbst. Der Job beansprucht uns zu sehr, da bleibt kaum mehr was übrig. Der letzte Mann, mit dem ich eine Beziehung hatte, war Arzt, und wenn er nicht bei seiner Arbeit war, wollte er nur noch schlafen, bumsen und zu Partys gehen.«
    »Und Sie wollten mehr?«
    »Nun, sich mal unterhalten, vielleicht auch mal ins Kino oder Theater gehen wäre nicht schlecht. Aber ich habe seine Art hingenommen, weil ich ihn liebte.«
    »Und was hat dann dazu geführt, daß Sie die Beziehung beendet haben?«
    Carol blickte auf ihren Teller. »Es ist nett von Ihnen, daß Sie das gesagt haben, aber ich habe sie nicht beendet. Als ich hierherzog, meinte er, das Hin- und Herfahren sei eine Verschwendung kostbarer Zeit fürs Bumsen, und schließlich ließ er mich zugunsten einer Krankenschwester sausen. Jetzt bin ich allein mit meinem Kater Nelson. Ihn scheint meine unregelmäßige Anwesenheit nicht allzusehr zu stören.«
    »Aha«, sagte Tony. Er hatte den echten Schmerz unter der Oberfläche erkannt, aber diesmal ließ ihn seine professionelle Geschicklichkeit im Stich, und er fand keine angemessene Entgegnung.
    »Und wie ist es bei Ihnen? Haben Sie im Moment jemanden?« fragte Carol.
    Tony schüttelte den Kopf, sich auf sein Essen konzentrierend.
    »Na so was, so ein netter Kerl wie Sie.« Carols neckender Ton überdeckte etwas, von dem Tony hoffte, daß er es sich nur einbildete.
    »Oh, Sie haben bisher bloß die charmante Seite von mir kennengelernt. Wenn der Vollmond kommt, wachsen mir Haare in den Handflächen, und ich jaule den Mond an«, sagte Tony grinsend.
    »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten, junge Frau«, knurrte er wie ein Werwolf.
    »Oh, Großmutter, warum hast du so große Zähne?«
    »Damit ich meinen Reis besser kauen kann«, lachte Tony. Er wußte, daß sie an einem Punkt angekommen waren, an dem er ihre Beziehung hätte vorantreiben können, aber er hatte zu viel Zeit damit verbracht, seine Verteidigung gegen genau diese Momente der Schwäche aufzubauen, um sie jetzt einfach zu ignorieren. Außerdem, sagte er sich, habe ich keinen Bedarf an einer Beziehung. Bittere Erfahrungen und seine Verbindung zu Angelica hatten ihn gelehrt, daß der jetzige Zustand das einzige war, womit er zurechtkam und was ihn wenigstens halbwegs funktionieren ließ.
    »Und wie sind Sie zu dieser seelenzerstörenden Tätigkeit gekommen?« fragte Carol.
    »Während meiner Zeit an der Uni entdeckte ich, daß ich es haßte, mich auf die Hinterbeine zu stellen und vor Zuhörern zu reden, was eine Universitätskarriere ausschloß. Also wandte ich mich der klinischen Praxis zu.« Tony schaffte es jetzt leicht, zu einer Reihe von Anekdoten aus seiner Arbeit überzugehen. Er spürte, daß er sich entspannte, wie ein Mann, der über einen dünn zugefrorenen See

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