Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
bekam.
Alles schien in den nachfolgenden Tagen zu verschwimmen. Am deutlichsten waren mir noch die Kirschkernsäckchen aus dem Ofenrohr in Erinnerung, die mir meine Großmutter unter die Daunendecke schob. Winzige hölzerne Perlen an meinen Zehen, die leise raschelten, wenn ich mich bewegte.
Ich kann zu meiner Reisen, nicht wählen mit der Zeit …
Ich schaltete meinen iPod ein, um die Erinnerungen zu verjagen, gab Nick Cave eine Chance, dann Nirvana. Es half nichts, natürlich nicht, Schubert war stärker. Nun, da er hinter meiner Stirn erst einmal den Dirigierstock schwang, ließ er sich nicht mehr vertreiben. Ich schaltete den iPod wieder aus, zwang mich zur Konzentration auf die Gegenwart. Ich musste meine Tasche holen und zum Taxistand gehen. Ich musste endlich entscheiden, ob ich mich erst in meine eigene Wohnung oder direkt in die meiner Mutter fahren lassen wollte. Ich sollte mir was zum Frühstücken kaufen oder wenigstens einen Kaffee.
Es war laut in der Ankunftshalle: Menschen schoben sich an mir vorbei. Über den Satzfetzen in diversen Sprachen buhlten die mechanischen Durchsagen aus den Lautsprechern um Aufmerksamkeit, Rollkoffer und Gepäcktrolleys ratterten und quietschten. In der Nähe der Gepäckbänder entdeckte ich eine Toilette und zog dort die Socken und den Pullover an. Er war nicht aus Wolle, sondern aus Synthetik, schick, aber im Augenblick nicht wirklich hilfreich. Ich hatte mich getäuscht, gestand ich mir ein. Ich war nicht gewappnet. Nicht gegen den Schnee, nicht gegen Berlin, nicht gegen den Tod meiner Mutter, gegen gar nichts. Ich wusste nicht einmal, wie der Kohleofen in meiner Wohnung funktionierte, denn seit Ivos Tod hatte ich den deutschen Winter immer gemieden.
Ich holte die Plastikflasche, die ich immer bei mir trug, aus meinem Rucksack, füllte sie mit Leitungswasser und trank ein paar lange Schlucke mit geschlossenen Augen, den Rücken an die gekachelte Wand gelehnt. Ich steckte die Flasche wieder ein und wusch mir die Hände. Ivos graue Augen schauten mir aus dem Spiegel dabei zu, Augen, die wie meine ausgesehen hatten und wie die unserer Mutter. Hier ist alles in Ordnung, hatte sie bei unserem letzten Telefonat gesagt. Hier bei mir auch, hatte ich erwidert, mach dir keine Sorgen. Höflichkeiten waren das. Worthülsen, um all das Unausgesprochene zu übertönen, das natürlich dennoch in jedem Satz mitschwang, in jedem Atemzug, in jedem Schweigen, unhörbar, aber dennoch vorhanden, wie ein Misston, der ganz knapp außerhalb jenes Frequenzbereichs liegt, den das menschliche Ohr noch wahrnehmen kann.
Alles in Ordnung, ich komme schon klar. Nicht einmal vom Glück hatte ich meiner Mutter noch etwas erzählt. Von den gestohlenen Stunden auf dem Oberdeck der Marina, nachts, allein unter den Sternen. Von den Jamsessions mit Lorenz in dem leeren Konzertsaal, ebenfalls nachts, wenn alle anderen schliefen. Von den magischen Augenblicken, die ich selbst als Barpianistin erlebte, wenn mein Publikum plötzlich ganz still wurde, wenn sie mich wirklich hörten.
Eine Gruppe Asiatinnen betrat den Waschraum, lachend und schwatzend, an den Füßen trugen sie Flip-Flops. Ich machte ihnen Platz und ging zum Gepäckband, wo meine Reisetasche schon zwischen sehr viel größeren Koffern kreiste. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem wir gelandet waren? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Mehr? Ich sah auf meine Armbanduhr, stellte sie auf deutsche Zeit. Neun Uhr morgens war es hier, drei Stunden früher als auf den Seychellen. Dort war der freie Tag für die Crew nun schon wieder vorbei, in der Bordküche würden sie Tee und Dinner vorbereiten, und heute Abend würde Tatjana meinen Platz am Flügel der Lili einnehmen. Sie spielte sonst in der Bordband, ihr Solorepertoire war bei Weitem nicht so umfangreich wie meins, aber es würde genügen, kaum einer der Barbesucher würde den Unterschied bemerken.
Jetzt bloß kein Selbstmitleid, Rixa, reiß dich zusammen, eine Woche, höchstens zwei, dann ist das hier überstanden. Ich hob meine Tasche vom Band und bahnte mir zwischen Koffern, Trolleys und Menschen einen Weg zum Ausgang. Neben mir dudelte ein Handy los. Sein dickleibiger Besitzer schrie einen Schwall Italienisch in den Äther.
Pronto
, verstand ich,
cazzo
, dann verschluckte das allgemeine Geräuschpotpourri sein Gefluche. Ich musste mein eigenes Handy wieder einschalten. Ich musste mich bei der Polizei melden. Den Retzlaff-Clan informieren. Die Beerdigung planen. Ich musste vom Flughafen weg
Weitere Kostenlose Bücher