Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
sieht er. Ihr seid doch Kinder.«
»Und Papa und du?«
»Schlaf jetzt, Ricki. Und träum was Schönes.«
Aber ich hatte nicht geschlafen nach diesem Gespräch. Auch als im Haus längst alle Geräusche verklungen waren, lag ich noch hellwach im Dunkeln und versuchte mir einen schlampigen Gott vorzustellen und fragte mich, was das wohl für Sünden waren, die mein sonst immer so korrekter Großvater nicht ahndete. Das Nachtgeflüster meiner Mutter stellte mich häufig vor solche Rätsel. Manchmal gelang es mir im Nachhinein, mir einen Reim darauf zu machen. Einige der Geschichten, die sie mir zuraunte, kamen mir sogar so real vor, als wären es gar nicht ihre Erlebnisse, sondern meine. Doch in dieser Nacht sah ich nur ein einziges Bild, das letztendlich genauso leblos blieb wie die Fotos in unseren Familienalben, zu dem Großvater, den ich kannte, schien es nicht zu passen. Und trotzdem konnte ich dieses Bild auch Jahrzehnte später noch heraufbeschwören, fast so, als hätte ich es tatsächlich gesehen: einen Mann im Talar auf einem Friedhof im Schnee, die Arme zum Segen der Selbstmörder erhoben, wie eine riesige, traurige Krähe.
Du sollst nicht töten. Das fünfte Gebot. Hatte meine Mutter daran gedacht, als sie unaufhaltsam auf die Scheinwerfer des anderen Wagens zuraste? Oder dachte sie nur an Ivo? Ich wollte das nicht herausfinden müssen. Ich wollte überhaupt nicht hier in diesem Flugzeug sein. Ich wollte mein Leben leben, dieses Leben, das ich mir aufgebaut hatte. Nicht so, wie ich das mal erträumt hatte, bei Weitem nicht so wild oder bedeutsam, aber doch meins.
Das Fahrgestell rumpelte. Die Boeing sank immer schneller, schneeverkrustete Dächer und Straßenzüge kamen in Sicht, Kasernen, und kurz darauf rollten wir über die Landebahn und zum Terminal. Berlin-Tegel. Wie ein einziger Organismus gerieten die Passagiere um mich herum in Bewegung. Ich schob meinen iPod in die Jackentasche, zwang mich, meine Jacke anzuziehen und aufzustehen. Ich hatte den iPod während des zehnstündigen Flugs nicht benutzt, ich hatte auch nicht gelesen, ich war nicht einmal für eine Minute eingenickt, trotzdem fühlte ich mich, als könnte ich nie wieder schlafen.
Theodor, 1915
Am letzten Abend gehen sie noch einmal in den Wald. Ohne das zu verabreden oder auch nur zu überlegen, lenken sie ihre Schritte auf den vertrauten Weg. Die sandige Birkenallee hinunter, an den Koppeln von Bauer Henning vorbei bis zum Ufer der Warnow, dann bei der Eiche auf den Trampelpfad. September schon. Ein Jahr Krieg ist vergangen, aber hier in Mecklenburg haben sie das kaum bemerkt. Eine schwere, goldene Reife ruht auf dem Land. Der Geruch gärenden Fallobsts mischt sich mit dem Rauch der Kartoffelkrautfeuer. An diesem Morgen sind die ersten Kraniche auf dem Feld hinter dem Pfarrhaus gelandet. Schreiend und flügelschlagend und ohne die Menschen zu beachten, vollführen sie ihren komplizierten Tanz.
Sie sind zu früh dran, hat die Mutter gesagt. Ganz leise, wie zu sich selbst. Aber er hat es doch gehört, und einen Augenblick lang schnürte ihm etwas die Kehle zu, als brächten die albern herumhüpfenden Zugvögel Unheil.
Der Uferpfad schwingt hinauf in einen Buchenwald und löst sich für einige Hundert Meter vom Fluss, dann, nach der nächsten Biegung, sehen sie schon ihren Angelplatz. Viel zu schnell haben sie den heute erreicht, auch Richard scheint so zu empfinden. Tagelang hat er vor Euphorie über sein bevorstehendes Abenteuer nur so gesprüht, hat am Sonntag das größte Stück Fleisch bekommen und beim Frühstück eine Extraportion Marmelade, aber nun macht er keinerlei Anstalten, sich seinen Lieblingsplatz auf dem Baumstamm zu sichern.
»Was ist los, Rick, hast du Angst, du holst dir nasse Füße?«
Richard antwortet nicht, steht auf einmal so reglos wie am Morgen die Mutter.
»He!« Theodor boxt seinen Bruder in die Seite.
Das löst Richard aus seiner Erstarrung. Blitzschnell weicht er aus und zieht Theodor mit seinen langen, sehnigen Armen in den Schwitzkasten. Und fast gelingt ihm das auch, aber nur fast, denn Theodor krümmt sich reflexartig zusammen und angelt mit der Ferse nach Richards Wade. Er fühlt, wie sein Bruder die Muskeln anspannt und noch fester zupackt, er riecht seine Haut. Alles vertraut, alles schon tausendmal durchexerziert. Körper an Körper verharren sie so für ein paar Sekunden, dann schafft Richard es doch wieder, ihn zu Boden zu ringen.
»Frieden?« Er hält Theodor die Hand hin, grinst auf ihn
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