Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
gewusst hatte, weil ich nicht gefragt und nicht richtig hingeschaut hatte, weil ich versucht hatte, Streit zu vermeiden. Ich dachte daran, dass ich trotz Alex’ ständiger Mahnungen noch immer kein Skype installiert hatte. Vielleicht, weil ich gar nicht wissen wollte, wie er lebte. Nein, das stimmte nicht. Ich wollte es wissen, aber ich wollte ihn nicht über einen Computermonitor ausspionieren, ich wollte, dass er mit mir redete. Dass er mir endlich eröffnete, dass er schwul war oder mir bewies, dass seine Deirdre kein Phantom war. Aber das war natürlich kindisch, durch Schweigen und Warten erschuf man kein Vertrauen und auch keine Nähe, sondern nur ein weiteres Phantasiebild. Ich würde Skype installieren und Alex bitten, mir seine Freundin zu zeigen, beschloss ich. Ich würde ihm auch von Eike erzählen.
»Du musst deine Geschwister doch vermisst haben«, sagte ich zu Amalie.
»Natürlich. Doch. Anfangs war es ganz schrecklich, aber dann –« Sie atmete scharf ein, und ich spürte den Druck ihrer Hand in meiner Armbeuge und mein eigenes Herz in harten Schlägen. Sie würde reden. Diese Frau, die meine Großmutter war, auch wenn es mir noch schwerfiel, so von ihr zu denken, würde reden.
»Ich habe mich wohl daran gewöhnt, und ich musste mir ja eine ganz neue Welt erobern. Und so verflogen die Jahre und wurden zu Jahrzehnten.« Amalie blieb stehen und sah aufs Wasser. »Und irgendwann sagte ich mir vor, dass es nun ohnehin zu spät war. Keine schlafenden Hunde wecken. Aber dann, vor drei Jahren, erlitt ich einen Schlaganfall.«
»Und deshalb hat Ann für dich das Haus in Sellin gekauft.«
Amalie nickte. »Die alten Wurzeln, die Kindheit.« Sie lachte auf, doch es klang nicht fröhlich, sondern wie ein Porzellanglöckchen, das einen Sprung hatte. »Ich war naiv und wohl auch egoistisch, als ich wieder auf den Beinen war. Ich habe mir tatsächlich vorgestellt, ich könnte dieses Haus sanieren lassen und dann dort einfach mal Ferien in der Vergangenheit machen.« Sie verzog das Gesicht, stützte sich noch schwerer auf mich. »Nein, Unsinn, ich will ehrlich mit dir sein. Es ging mir vor allem um Dorothea. Ich wollte sie um Verzeihung bitten. Ihr alles erklären. Ich habe so oft bedauert, dass ich sie damals zurücklassen musste.«
»Musstest du das denn?« Meine Stimme war tonlos.
»Ich musste mich selbst retten. Ich wäre verkümmert ohne meine Musik. Bibelkreise und Kirchenchor, irgendwann eine Ehe, darauf lief es dort doch hinaus. Und dann lernte ich beim Milchholen Sergej kennen. Einen der Soldaten, der eigentlich Geiger an der Oper in Moskau war. Er hatte mich singen gehört, so fing das an. Er beschwor mich, ich dürfe mein Talent nicht verschwenden. Aber ich wollte nicht nach Moskau, sondern nach Amerika. Und er versprach, mir zu helfen.«
»Ein Russe, ausgerechnet.«
»Der Erzfeind, ja. Ein gottloser Bolschewik. Mein Vater hat mich beinahe totgeprügelt, als er davon erfuhr.«
»Und dann?«
»Bin ich gegangen, sobald ich wieder krabbeln konnte, und das habe ich nie bereut, nur, dass es ohne Abschied geschah.«
Ohne Abschied, über Nacht. Etwas Schwarzes, das sich über meine Mutter senkt, und sie mir auf immer nimmt. Hatte meine Mutter das damals so empfunden? War das ihr Albtraum, der mich wieder und wieder quälte?
»Sie hat gedacht, du wärst tot«, sagte ich und versuchte mir den ungeheuren Schock vorzustellen, den sie erlitten haben musste, als Amalie Jahrzehnte später auf einmal wieder in ihr Leben getreten war. Wie war es nur möglich gewesen, dass sie Alex und mir das verschwieg? Wieso hatte ich davon nichts bemerkt? Oder hatte ich es ganz einfach nicht bemerken wollen?
»Wie hat sie reagiert?« Ich brachte noch immer nicht viel mehr als ein Flüstern hervor.
»Sie hat mich weggeschickt«, erklärte Amalie sehr sachlich. »Sie wollte nichts mit mir zu tun haben und auch keine Erklärungen anhören. Sie war wohl auch viel zu gefangen in ihrer Trauer um deinen Bruder.«
Ivo, natürlich. Die falsche Tote, die wieder auferstanden war. Meine Mutter wollte ihren Sohn, nicht diese Frau, die sie im Stich gelassen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war.
»Hätte ich von Ivos Tod gewusst, hätte ich Dorothea vor Jahren natürlich niemals aufgesucht, als das Haus einigermaßen renoviert war«, sagte Amalie.
»Und dann hat sie dir doch noch das Pfarrhaus abgekauft. Warum? Von welchem Geld?«
»Sie hat nichts dafür bezahlt. Wir haben ihr das Haus einfach überschrieben. Sie hat das
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