Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Dolby-Surround-Luxus, Alfred Brendel höchstpersönlich gab sich die Ehre, das war unverkennbar. Ich sah aus dem Fenster, ich hatte so viele Fragen, doch es kam mir falsch vor, sie dieser schönen blonden Frau zu stellen, nicht Amalie. Friend, Freundin, hatte sie sie genannt. Was hieß das genau? War sie die Lebensgefährtin, war Amalie lesbisch? Sie hatte, soweit man ihrem offiziellen amerikanischen Lebenslauf trauen durfte, jedenfalls nie geheiratet.
Häuser und Straßenzüge und Autos und Schilder glitten vorbei. Motels, Drive-In-Restaurants, Tankstellen, Donut-Shops. Dann wurden die Häuser kleiner und die Gärten größer und schließlich fuhren wir durch sanft geschwungene Felder und Wiesen, eine Landschaft, die mich im allerletzten Abendlicht an Mecklenburg erinnerte, aber das war vermutlich nur Einbildung. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder. Die Dunkelheit kam wie ein Tuch aus Samt und nahm mir jegliches Raum- und Zeitgefühl, ich war zugleich überwach und unendlich müde.
Ich musste eingenickt sein, schreckte hoch, als wir eine Ansammlung properer Holzhäuser und eine weiße Kirche passierten.
Point Pelee National Park
stand auf einem Hinweisschild hinter dieser Ortschaft, aber nach ein paar Hundert Metern – oder waren es doch Kilometer gewesen? – setzte Ann den Blinker und lenkte das Auto über einen schmalen Zufahrtsweg auf ein hell erleuchtetes Haus zu, und dort in eine Garage.
»Amalie wartet oben.«
Ann wollte meine Tasche nehmen, doch ich lehnte ab und folgte ihr über eine Holztreppe ins Haus und weiter in ein luftiges Wohnzimmer mit Kamin. Eine der Wände bestand komplett aus Glas und öffnete sich zu einer beleuchteten Veranda. Vielleicht, nein wahrscheinlich, lag in dem Schwarz dahinter der See, jetzt war das nicht zu erkennen. Doch in einem der beiden Sessel mit Blickrichtung in diese Dunkelheit saß eine zartgliedrige Dame in blauem Seidenkaftan, die sich nun erhob und nach meiner Hand griff.
»Oh«, sagte sie auf Deutsch. »Du siehst ihr so ähnlich!«
Ich nickte, verwirrt, noch immer benommen von der Fahrt und meinem Jetlag. Die grauen Augen meiner Mutter meinte sie wohl, die gerade Retzlaffsche Nase. Ich versuchte mir die beiden Fotos von Amalie als junger Frau ins Gedächtnis zu rufen, und ihr Gesicht mit dem dieser weißhaarigen Operndiva zu vergleichen, die nicht nur an der New Yorker Met, sondern auch an der Scala, in Tokio, Salzburg und Sydney gefeiert worden war, und meine Hand noch immer festhielt. Sie war kleiner als ich, von der Statur meiner Großmutter. Ihre Augen leuchteten blau, kornblumenblau, wie die meines Großvaters.
Ann kam mit einem Tablett zurück, stellte einen Weinkühler, Gläser, ein Körbchen Baguette und vegetarische Antipasti auf den Holzisch. International gängige Häppchenkultur. Hier gab es nichts Provinzielles, das noch an einen ostdeutschen Pfarrhaushalt erinnerte.
»Es ist schon spät, aber nach der langen Reise.« Ann machte eine einladende Geste und schenkte uns Weißwein ein. »Ein Chardonnay aus der Region.«
»In Kanada gibt es Weinstöcke?«
»Wir befinden uns hier im Süden, etwa auf demselben Breitengrad wie Rom.«
Wir tranken uns zu, setzten uns. Die beiden Frauen waren ein Paar, ganz eindeutig, das sah ich an der Art, wie sie miteinander umgingen, sich berührten und anlächelten. Liebte Amalie Frauen, weil mein Großvater sie missbraucht hatte oder sie von russischen Soldaten vergewaltigt worden war? Sie wirkte so zart, so zerbrechlich, und kämpfte noch immer mit den Tränen. Wie sollte ich sie danach fragen?
Der nächste Morgen begann mit einem Gefühl von Unwirklichkeit. Der Eriesee sah nicht aus wie ein See, sondern wie ein Meer. Fahlgraue Wellen schlugen an einen Sandstrand, es gab sogar Dünen und Möwen, einen Moment lang glaubte ich, ich hätte die Reise nach Kanada nur geträumt und sei in Wirklichkeit an der Ostsee erwacht. Doch über meinem Bett hingen Schwarz-Weiß-Fotos von Operninszenierungen, und als ich ans Fenster trat, erkannte ich direkt unter mir die Veranda, die ich in der Nacht vom Wohnzimmer aus gesehen hatte. Amalie hatte sich ein Stück Mecklenburg im fernen Kanada gekauft, ein Stück Heimat, war es so? Das Haus war noch still.
Von der Veranda führte ein Fußweg zu den Dünen, der Strand dahinter war menschenleer, der Sand unter meinen Füßen weich und kühl. Doch das Wasser war sehr viel wärmer, als die Ostsee jemals sein würde. Ich tauchte unter, erneut verwirrt, als ich tatsächlich kein
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