Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
schließlich akzeptiert. Für Alex und dich, hat sie gesagt.«
Ich weinte, schon wieder. Zwölf Jahre lang hatte ich nicht eine Träne vergossen, nun heulte ich dauernd.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Amalie.
»Du hast sie im Stich gelassen! Sie ist nie drüber weggekommen! Wie konntest du das nur tun? Deine eigene Tochter!«
»Meine Tochter?« Amalie starrte mich an. »Oh nein, Rixa, das hast du falsch verstanden. Dorothea war meine Schwester.«
Theodor, 1945
Das Land ist still. Tot und verbrannt. Er erkennt das verkohlte Skelett eines Panzers am Wegesrand. Die Ruine einer Scheune. Die Toten sind nicht mehr hier, aber er sieht sie trotzdem und hört ihre Schreie. Wie in diesem Traum damals, der ihn in Poserin immer quälte. Aber dies hier ist kein Traum, und das Kind liegt in seinen Armen und wimmert.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind
– wann war das noch gleich und wo? In einem anderen Leben, einer anderen Welt – das Paul-Bender-Konzert im Gewandhaus in Leipzig. Elise an seiner Seite, ihr Entsetzen über diese
Erlkönig
-Ballade, ihre Unschuld, ihre schönen Augen, die in seinen forschten, ob er es auch gut mit ihr meine; ihrer beider unfassbare Jugend.
Unrecht hat er ihr getan, großes Unrecht. Wie soll er ihr je wieder begegnen? Es geht nicht, nie mehr. Theodor schwingt die Peitsche, lässt sie auf den Rücken des mageren Kleppers niederfahren, der den Leiterwagen zieht, den Wagen und seine grausige Fracht. Kein Ort mehr für ihn, kein Trost, niemals, nirgends. Er schluchzt auf, legt den Kopf in den Nacken und schreit ihren Namen, immer wieder ihren Namen, schreit ihn in den Himmel: »Clara! Clara!«
Wenn Gott es zulässt, dann kann es nicht böse sein, damit hat er sich zu beschwichtigen versucht. Und er hat Gott angefleht, wenn überhaupt, dann ihn zu holen und nicht sie, weil sie rein ist, gut, weil er alles ertragen könnte, nur nicht ihren Tod. Aber Gott ist gerecht, er lässt sich nicht spotten, er weiß, wie er strafen muss, wie und wen.
Dorl, lieber Dorl
. Hört er das wirklich? Nein, nie mehr wird sie ihn so rufen. Nie mehr wird ihre Stimme in der Sakristei zu ihm hinabschweben. Nie mehr wird sie für ihn singen, nie mehr mit ihm sprechen. Es geht nicht, es darf nicht sein, kann nicht sein, sie muss doch leben!
Aber sie schweigt, schweigt für immer. Hinter ihm auf der Pritsche liegt ihr Leichnam, kalt schon und steif. Wie ein Schlag hatte ihn ihre Stimme in jener Winternacht getroffen, als er sie mit Amalie hörte. Wie benommen war er danach, tagelang wie von Sinnen, bis ins Tiefste erschüttert. Und dazu ihre unbändige Lebenslust und die Leichtigkeit, mit der sie sich Konventionen widersetzte. Sie ließ sich von niemandem vorschreiben, was sie zu tun oder zu denken hatte. Sie hatten Hitlers Hetzreden niemals geblendet. Sie fürchtete die Partei, fürchtete jeden Tag um ihre Kinder, aber noch mehr verachtete sie das System, das ihr diese Angst auferlegte und das Land ins Verderben führte.
Sie kommen wegen Amalie
, hatte Clara gesagt, als er seinem Sehnen schließlich doch nachgab und vor ihrer Tür stand.
Ich weiß, dass es Unrecht ist, wenn ich Ihre Tochter gegen Ihren Willen bei mir sein lasse. Aber sie ist so begabt, es ist so eine Freude, mit ihr zu arbeiten
.
Er hatte nach Worten gesucht und keine gefunden. Er wusste, dass er gehen musste, ja überhaupt nicht hätte zu ihr kommen dürfen, und konnte sich nicht rühren. Sie war so wunderschön in dem grauen Seidenkleid mit diesem schmalen Band kantiger, schimmernder Rohdiamanten, das um ihren Hals lag und perfekt zu ihren Augen passte, jeder Stein so einzig und unvollkommen wie die Hühnergötter, die sie so eifrig sammelte.
Mein Mann ist nicht da
, hatte sie erklärt.
Kommen Sie doch bitte erst einmal nach drinnen ins Warme.
Und sie lachte ihn aus, als er sagte, Mendelssohn-Bartholdy sei verboten, zumal bei offenem Fenster.
Es ist Musik, lieber Theodor. Ein Oratorium, christlich zumal. Wir wollten einfach einmal ausprobieren, ob der Schnee draußen wohl unseren Gesang veränderte.
Und dann merkte er auf einmal, dass auf ihrem Grammofon im Salon Tschaikowsky spielte, und ihre Hand ruhte immer noch in der seinen und war sehr lind, und da hatte er sie an sich gezogen und sie tanzten Walzer, nur einen einzigen Walzer, er im schwarzen Anzug, sie in dem grauen Kleid, dann war er wieder hinaus in die Kälte gestolpert.
Und war doch verloren, verloren an sie. Und sie auch an ihn, das sah er in ihren Augen, obwohl sie
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