Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Zärtlichkeit.
Ich aß mein Omelette und trank von dem frisch gepressten Orangensaft. Eins der Gelees war offenbar selbst gemacht.
Black Currant
las ich auf dem Etikett. Schwarze Johannisbeere, das Lieblingsgelee meines Großvaters. Machte es Amalie nichts aus, das zu essen?
Ich bestrich ein Stück Toast damit, kostete, sah einen Augenblick die langen Regalreihen staubiger Einmachgläser in dem Poseriner Keller fast zum Greifen nah vor mir, das modrige Gemäuer und die Spinnweben, vor denen ich mich als Kind so gegruselt hatte. Und doch waren die Gelees und Marmeladen aus diesem Keller zumeist köstlich, es sei denn, meine Großmutter hatte ein Glas aus einem besonders guten Jahrgang so lange für einen besonderen Anlass aufgespart, dass unter dem Deckel bereits ein Schimmelpelz wucherte, wenn sie es endlich öffnete. Ich weiß noch, wie enttäuscht wir dann als Kinder waren, doch sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, sie nahm einfach ein Messer und schnitt den Schimmel in einer präzisen, dünnen Schicht von der Oberfläche des Gelees, und obwohl wir uns ekelten und das in Köln strikt verweigert hätten, aßen wir nach ein paar Tagen meist aus Versehen doch davon, und solange wir unseren Irrtum nicht bemerkten, schmeckte es tatsächlich so gut und frisch, wie unsere Großmutter das behauptete.
Fischfilets, in denen sich Würmer wanden. Apfelmus, das schon brodelte, so vergoren war es. Saure, eingedickte Milch, die wie Joghurt gelöffelt wurde. Keine Retzlaff-Familienzusammenkunft ging jemals zu Ende, ohne dass diese Erinnerungen an die eiserne Sparsamkeit meiner Großmutter mit Verve zum Besten gegeben wurden.
»Kannst du dich noch an die Teerhaferflocken erinnern?«, fragte ich Amalie.
Sie lachte. »Oh, aber ja. Ich musste sie zusammen mit meiner Mutter mit dem Leiterwagen abholen. Einen riesigen Sack voll. Mutter war so froh, weil der Winter bevorstand und nun zumindest für unser Frühstück gesorgt war. Da ahnte sie noch nicht, dass ihr dieser Sack geschenkt wurde, weil er in einer Lake Motorenöl gestanden hatte, sodass sein gesamter Inhalt danach schmeckte.«
»Aber sie hat euch dennoch jeden Morgen davon Haferbrei gekocht.«
»Was hätte sie tun sollen? Es gab ja sonst nichts. Und meine Eltern waren sich nicht zu fein, auch selbst davon zu essen. Mit gutem Vorbild voran, wie mein Vater das nannte.«
Mit gutem Vorbild voran. Ich dachte an meinen Patenonkel Richard, der sich der Familienlegende nach manchmal so sehr geekelt hatte, dass er diese Haferflocken auf dem Schulweg wieder erbrach, selbstverständlich erst dann, wenn er außer Sichtweite des Pfarrhauses war, nie einen Meter früher, egal wie sehr es ihn auch quälte und würgte. Ich dachte an Othello und an meine Mutter und Großmutter, wie sie heimlich die Katzen gefüttert hatten, und an meinen Großvater, der die Jungen dieser Katzen ertränkte und ein Kinderbuch von Erich Kästner verbrannte, weil die Nazis es befahlen. Ich dachte an all diese Fragen, die ich meiner Mutter nie gestellt hatte, und an meine Angst, als ich sah, wie sehr Richard meine Fragen nach seiner totgeschwiegenen Schwester aufwühlten. Angst, dass er zusammenbrechen würde, weil all das Unausgesprochene, das sich hinter den offiziellen Legenden verbarg, ihn überwältigte.
»Wussten deine Eltern eigentlich, dass du noch lebst und was aus dir geworden ist?«
»Ich habe ihnen hin und wieder geschrieben, ja.«
»Haben sie geantwortet?«
»Nein.«
»Sie haben dich verschwiegen. Totgeschwiegen.«
»So war es wohl leichter für sie, nach allem, was geschehen war.«
Leichter für sie. Wie konnte es sein, dass Amalie das so einfach akzeptierte? Ein Kind kann ein Trauma wie eine Vergewaltigung verdrängen, aber nicht eine erwachsene Frau. Oder doch?
»Ich habe vor ein paar Tagen Richard besucht«, sagte ich. »Ich habe ihn nach dir gefragt. Ihn und Elisabeth. Ich glaube, sie wissen nicht einmal, dass du lebst. Sie denken, russische Soldaten hätten dich vergewaltigt und getötet.«
Amalie seufzte. »Ja, so wird er ihnen das wohl erzählt haben.«
»Dein Vater.«
»Ja.«
»Aber so war es nicht.«
»Nein, so war es nicht.« Sie stand auf, sah mich an. »Gehen wir ein Stück?«
Richards Worte, genau das hatte Richard auch gesagt. Aber Amalie ging langsamer als er, unsicherer, und unten am Strand hakte sie sich bei mir unter.
»Wart ihr euch als Kinder nah, Richard und du?«
»Tja.«
Ich sah ihr Zögern und dachte an Ivo und an all die Dinge, die ich nicht von ihm
Weitere Kostenlose Bücher