Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Salz schmeckte. Süßwasserwellen, eine neue Erfahrung. Ich schwamm lange und dachte an Amalie und Ann und an Eike, und wie anders er aussah, wenn er lachte oder Gitarre spielte oder mich anfasste, und merkte, dass ich ihn vermisste.
Eine Haushälterin werkelte in der Küche, als ich zurück ins Haus kam.
»Amy loves to sleep long«, erklärte sie mir freundlich.
Ich duschte, zog mich an und ging wieder hinunter. Auf der Veranda war nun für zwei Personen zum Frühstück gedeckt, und es duftete verführerisch nach Kaffee und Gebratenem, doch weder Amalie noch Ann ließen sich blicken, also vertrieb ich mir die Zeit damit, die Amy-Love-Devotionalien zu betrachten, die eine der Wohnzimmerwände zierten: eine gerahmte, frühe Kritik aus der
New York Times
. Das Zertifikat für den erfolgreichen Abschluss einer Meisterklasse an der Musikhochschule Boston. Ein japanisches Werbeplakat. Eintrittskarten. Amalie als Königin der Nacht auf einem silbernen Halbmond vom Himmel schwebend. Eine Platin-CD, verliehen für
The Love of Singing
, Amalies offenbar erfolgreichstes Album. Sie war ihren Weg gegangen. Die kleine Weihnachtslieder singende Pfarrerstochter aus der mecklenburgischen Provinz war ein Star geworden. Woher hatte sie die Kraft genommen, nach allem, was ihr als junger Frau widerfahren war? Ich betrachtete eine handschriftliche Notiz auf vergilbtem Papier in einem goldenen Rahmen, die jemand in grüner Tinte verfasst hatte:
»Für mein geliebtes Pünktchen Amalie,
aus der gewiss einmal ein ganz großer Punkt, nein, ein prächtiges Ausrufezeichen werden wird! Zum 8. Geburtstag. In Liebe, Dein Patenonkel Hermann.«
»Pünktchen
und Anton.«
Amalie trat neben mich. »Als sie in Deutschland Bücher verbrannten, hat mein Vater mir das Buch weggenommen und in Rostock auf den Scheiterhaufen geworfen, aber die Seite mit der Widmung durfte ich behalten. Sie hat mich ein Leben lang begleitet.«
»Hermann, das war Omas Cousin, nicht wahr?«
Amalie nickte. »Er hat zu Beginn seines Studiums zur Untermiete bei ihren Eltern gelebt und brachte meinen Vater als Freund mit in die Familie. Sonst hätten meine Eltern sich wohl niemals kennengelernt.«
»Niemand in unserer Familie hat je von ihm gesprochen.« Niemand hat je über irgendetwas, das wirklich wichtig war, gesprochen.
»Er war ein wunderbarer Mensch. Sehr weich, sehr liebevoll. Das genaue Gegenteil von meinem Vater.«
»Richard hat gesagt, dass er in einem Konzentrationslager ums Leben kam.«
»In Buchenwald, ja.« Amalie hielt einen Moment lang inne und schloss die Augen und ich glaubte den Schmerz von damals in ihrem Gesicht zu sehen.
»Warum war er dort?«, fragte ich leise.
Amalie gab sich einen Ruck, sah mich wieder an. »Weil er nicht bereit war, sich den Mund verbieten zu lassen. Weil er es als seine Pflicht ansah, das Morden der Nazis als Morden zu bezeichnen.«
»Und Großvater war in der SA und verbrannte Kinderbücher.«
»Er hat seinen verhängnisvollen Fehler noch erkannt, Rixa. Er ist aus der NSDAP und der SA ausgetreten. Voller Angst, doch er tat es, und meine Mutter hat ihn bekräftigt, vielleicht sogar dazu gedrängt. Hermanns Tod war ein Wendepunkt, für uns alle, vor allem aber für sie. Hermann war ihre letzte Verbindung zu ihrer Kindheit. Sie hat nie aufgehört, ihn zu vermissen.«
»Trotzdem. 1942 war spät, sehr spät.«
»Das stimmt. Aber es war dennoch unendlich mutig. Meine Eltern haben fest damit gerechnet, dass mein Großvater seine Abkehr von den Nazis mit dem Leben bezahlen würde, und was wäre dann aus meiner Mutter und uns Kindern geworden?«
»Aber er ist davongekommen.«
»Und er hat für all seine Sünden dennoch sehr bitter bezahlt, Rixa. Später. Und meine Mutter hatte die Größe, ihm zu verzeihen, als er ganz am Boden war.«
Sünden, welche Sünden? Die Vergewaltigung seiner eigenen Tochter? Konnte eine Mutter so etwas jemals verzeihen?
Amalie ergriff meine Hand und zog mich mit überraschender Kraft zum Frühstückstisch.
»Komm, essen wir erst einmal, Lucys Omelettes sind phantastisch.«
Essen, nicht reden. Mir war nicht danach, und dennoch rumorte mein Magen. Zeit, du hast Zeit, Rixa, mahnte ich mich. Lass sie in ihrem eigenen Tempo erzählen.
Sie lächelte mich an. »Bitte, greif zu.«
»Wo ist eigentlich Ann?«
»Oh, Ann ist schon in Buffalo an ihrem College. Sie ist ein
early bird
, wie man hier sagt.«
»Sie arbeitet?«
»Sie ist Mathematikdozentin.« Stolz schwang in Amalies Stimme mit.
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