Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
waren mit recht groben Stichen verschlossen worden, doch sie ergaben ein ansehnliches Ganzes. Hier und da hatte Onawah Flicken eingenäht, die sich farblich von dem ursprünglichen Stoff abhoben, aber alles wirkte sauber und ordentlich.
»Ich danke dir«, sagte Marie gerührt, während sie mit der Hand über den vertrauten Stoff strich.
»Ich dachte, du fühlst dich wohler so. Aber wenn du unsere Kleider tragen willst, gebe ich dir eines.«
»Vielen Dank, später vielleicht«, entgegnete Marie ausweichend, denn sie wollte die Heilerin nicht beleidigen. Gegen die Kleidung, die sie trug, war absolut nichts einzuwenden, sie wirkte sogar recht praktisch, aber Marie fühlte sich nicht als Indianerin und wollte den anderen auch nicht vormachen, dass sie sich an ihre Situation gewöhnt hätte.
Nachdem sie angekleidet war und Onawah kunstvolle Zöpfe aus ihrem Haar geflochten hatte, verließen die beiden Frauen das Zelt. Obwohl sich ihre Beine immer noch ein wenig wacklig anfühlten, benötigte sie die Hilfe der Heilerin diesmal nicht. Mit so viel Haltung, wie ihr schmerzender Rücken zuließ, schritt sie neben Onawah auf die ersten Zelte zu und bemerkte dabei, dass das Zelt der Heilerin eine Art Sonderstellung einnahm. Es befand sich beinahe in der Mitte des Lagers, in direkter Nachbarschaft zum Tipi des Häuptlings und seiner Familie.
Werde ich den Anführer ebenfalls kennenlernen?, fragte sich Marie, doch da trafen sie auch schon auf die ersten Stammesmitglieder, die sich ihr zurückhaltend, aber keineswegs schüchtern näherten. Eine ältere Frau griff mit der ihr schon bekannten Geste nach ihrem Haar, das nun in Zöpfe geflochten war, und sagte dann etwas in ihrer eigenen Sprache zu Onawah. Obwohl sie gern gewusst hätte, was es war, beschränkte sich Marie darauf, einfach nur zu lächeln und die Frau nicht allzu unverhohlen anzusehen. Auch die anderen Frauen fanden nun den Mut, sie zu berühren. Sie zupften an ihrem Kleid, das sich so seltsam von der Kleidung der anderen abhob, dann wieder an ihrem Haar.
Nach einer Weile erriet Marie den Grund, warum sie sich gerade so sehr für ihre Zöpfe interessierten. Weit und breit gab es keine Haarfarbe, die heller war als braun. Die meisten Frauen, die sich jetzt um sie scharten, und auch die Männer hatten tief blauschwarzes glattes Haar, das teilweise zu Zöpfen geflochten oder mit Perlen und Federn geschmückt war.
Nachdem sie kurz ein paar Worte mit ihren Leuten gewechselt hatte, nahm Onawah Marie am Arm und ging mit ihr weiter.
»Was haben sie gesagt?«, fragte Marie, während sie dem Verlangen widerstand, sich noch einmal zu den Frauen umzudrehen.
»Die Frauen wundern sich über dein helles Haar, sie sagen, dass du Haar wie Präriegras hast, das von Sonne getrocknet ist«, erklärte Onawah, als sie sich ein wenig von ihnen entfernt hatten und einem weiteren Tipi zusteuerten, dessen Außenwände mit prächtigen Fellen geschmückt waren.
Marie zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Haben sie noch nie jemanden wie mich gesehen?«
»Ein Gelbhaar? Doch, ab und zu kommen Männer her und handeln mit uns. Manche haben auch Haar wie trockenes Präriegras. Und Wasseraugen wie deine. Aber noch keine Frau.«
»Gibt es in der Nähe denn keine Städte der … Weißen?«
Onawahs Gesicht verfinsterte sich ein wenig. »Doch, die gibt es. Nur hundert Meilen von hier. Doch Leute nicht kommen her. Nur Händler. Weiße, die dort leben, haben Angst vor uns.«
»Angst?« Marie sah sich um. Auch sie hatte ein mulmiges Gefühl, das mittlerweile aber nur von Unsicherheit und nicht mehr von Angst herrührte.
»Angst, weil wir zu anderen Göttern beten. Angst, weil unsere Männer gute Krieger sind. Früher haben wir versucht, mit weißen Menschen zu sprechen, doch sie vertreiben uns. Hier haben wir einen Platz gefunden, an dem wir gut leben können.«
»Wandert ihr denn nicht umher?« Irgendwo meinte Marie gelesen zu haben, dass Völker, die auf feste Behausungen verzichteten, selten sesshaft waren.
»Wir folgen dem Bison«, erklärte Onawah. Der Schatten auf ihrem Gesicht war noch immer nicht verschwunden. Dass die weißen Einwanderer keinen Kontakt zu ihnen haben wollten, schien sie zu bekümmern. »Doch wir können nicht mehr gehen, wohin wir wollen, also bleiben wir länger an einem Ort. So lange, bis der Bison fortgeht.«
Diese Worte ergaben für Marie keinen wirklichen Sinn, aber sie spürte, dass das Auftauchen der Einwanderer nicht wirklich Vorteile für die Cree gebracht
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