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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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bewahrte sie vor dem Fallen. Onawah war sogleich bei ihr und hielt sie mit einer Kraft, die Marie der zierlichen Frau nicht zugetraut hätte.
    »Pass auf, wenn du fällst, du dir leicht Bein oder Arm brichst, weil du noch so schwach.«
    Marie wollte dagegenhalten, dass sie sich auch beim Sturz aus dem Wagen nichts gebrochen hätte; dankbar für die Zuwendung schwieg sie allerdings und stützte sich auf die Heilerin, die sie zum Zeltausgang führte.
    Die rosafarbenen Wolken am Himmel kündigten bereits die Nacht an. Rotes Licht färbte die zahlreichen Zelte, zwischen denen ein paar Männer standen und sich unterhielten. Vor den Zelteingängen säuberten Frauen ihr Kochgeschirr. Kinder, die am Rand des Lagers umhertollten, wurden mit strengen Rufen zu ihren Zelten zurückbeordert.
    Marie war wie erschlagen von dem Anblick. Die Zeichnungen, die sie bisher in Büchern gesehen hatte, zeigten meist nur ein paar Zelte, doch hier breitete sich ein ganzes Dorf vor ihr aus, in dem die Zelte durch sorgsam niedergetretene Wege verbunden waren. Dreißig Behausungen zählte Marie allein auf der Seite, die dem Eingang von Onawahs Zelt zugewandt war. »Das ist unser Dorf«, erklärte die Heilerin. »Auf anderer Seite des Lagers liegt See. Dort sich die Götter aufhalten, wenn Sonne schlafen geht.«
    Marie war nicht fähig, etwas darauf zu erwidern. Die in Stammestracht gekleideten Menschen faszinierten sie und fachten ihren Forscherdrang an. Wenn ich das meinen Kindern in der Schule erzählen könnte! Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages jene Menschen sehe, die ich nur aus Büchern kenne! Ihre Gedanken überschlugen sich.
    Das ließ sie für einen Moment sogar den Überfall und die Sorge um ihre Reisegefährtinnen vergessen.
    »Wenn du wieder gesund, ich führe dich zum See, damit du sehen kannst, wie Sonne darin versinkt«, versprach ihr Onawah, als sie sie wieder ins Zelt zurückführte und auf ihr Krankenlager bettete. Marie fuhr zusammen, als sie das Bett zum ersten Mal richtig sah.
    Sie hatte die ganze Zeit über auf einem Wolfsfell geschlafen.

9. Kapitel

    In den folgenden Tagen machte ihre Genesung große Fortschritte. Die Kopfschmerzen wurden weniger, und die Kraft kehrte in ihre Glieder zurück.
    Hin und wieder ließen sich Stammesangehörige bei Onawah blicken, um ihren Rat in Gesundheitsdingen oder religiösen Fragen einzuholen. Die Heilerin hatte ihr ein wenig über ihren Glauben erzählt, und obwohl Marie christlich erzogen war, faszinierte es sie, dass die Cree Naturgottheiten und Geister verehrten – und vor allem Mutter Natur als die große Schöpferin allen Lebens. Die Menschen, die in Onawahs Zelt erschienen, ließen sich Träume deuten, denn diese waren besonders wichtig in ihrem Glauben. Wenn sich herausstellte, dass ein Gott erzürnt war, fragten die Cree, wie sie ihn wieder gnädig stimmen konnten. Onawah riet ihnen meist, Sonnenrituale durchzuführen, bestimmte Lieder zu singen und die Trommel zu schlagen. Hin und wieder wurde auch ein Opfer nötig, das meist aus einem erlegten Tier oder gesammelten Früchten bestand.
    Marie lauschte verblüfft und fragte sich, was wohl Peter zu all dem gesagt hätte.
    Zwischendurch spähten ein paar Kinder neugierig ins Zelt, um »die Frau mit den gelben Haaren« zu betrachten. Marie nahm die Blicke mit Gleichmut hin. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich auch versucht, einen Blick auf einen außergewöhnlichen Menschen zu erhaschen, dachte sie friedlich.
    Zwischendurch überkam sie immer wieder der Drang, in ihr Tagebuch zu schreiben, doch als sie danach tastete, fiel ihr wieder ein, dass sie es beim Sturz verloren haben musste. An Ersatz war hier draußen nicht zu denken, die Cree kannten so etwas wie Bücher wohl nicht.
    Traurig kuschelte sie sich in das Wolfsfell. Viele Erinnerungen hatte das Buch noch nicht enthalten, aber es war ihr doch ans Herz gewachsen. Wer es wohl in die Finger bekommen hatte?
    Nachdem sie eine Weile in die Dunkelheit gestarrt hatte, fielen ihr die Augen zu. Kurze Zeit später streifte ein Windhauch ihr Gesicht. Ihre Umgebung wurde in ein seltsames Zwielicht getaucht. Dämmerte bereits der Morgen herauf?
    Marie erhob sich langsam und blickte durch den offenen Zelteingang. War Onawah noch einmal nach draußen gegangen? Wollte sie ihre Götter am See begrüßen?
    Ohne sich nach ihrer Schlafstelle umzudrehen, erhob sich Marie. Alle Schwäche, alle Schmerzen in ihren Gliedern waren auf einmal verschwunden. Sie fühlte sich nahezu schwerelos,

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