Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
machen?
Wenn es denn noch einen Treck gab, dachte sie niedergeschlagen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer uns überfallen haben könnte?«, fragte Marie weiter, während sie gegen das plötzliche Brennen in ihrer Brust ankämpfte. Obwohl sie den Treckchief nicht besonders gut gekannt hatte, fühlte sie Trauer und auch Zorn über seinen Tod. Als sie auf ihre Handfläche schaute, glaubte sie noch immer seine sanften Finger zu spüren, die ihre Lebenslinie nachzogen.
»Weiße«, antwortete Matahi unverwandt, dann spuckte er mit einer Geste des Abscheus auf den Boden. »Viele Soldaten aus Süden kommen her und überfallen Reiter. Frauen vor Banden nicht sicher.«
Waren die Männer, die sie verfolgt hatten, wirklich Soldaten gewesen? Marie versuchte, sich an mehr als die groben Details zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Der Sturz aus dem Wagen war viel zu plötzlich gekommen.
Nachdem sie die Krieger hinter sich gelassen hatten, durchquerten sie weitere Zeltreihen. Überall trafen sie auf neugierige Frauen und Kinder und wachsam dreinblickende Männer.
Der Schock über Angus Johnstons Tod saß Marie überraschend tief in den Knochen. Sie hatten doch nur ein paar Mal miteinander gesprochen! Aber sie hatte ihn gemocht, und da waren auch noch die Gedanken und Fantasien gewesen, denen sie sich in der Stille der Nacht manchmal hingegeben hatte. Ella hätte vermutlich darüber gefeixt, doch jetzt konnte sie nicht einmal ihr davon erzählen. War es den restlichen Männern vom Treck gelungen, die Frauen in Sicherheit zu bringen? Oder standen die Wagen nicht weit von der Überfallstelle, ohne einen lebenden Menschen an Bord?
»In deinen Augen sehe ich große Sorge«, bemerkte die Heilerin, als sie vor ihr stehen blieb.
»Ich frage mich, was aus den Frauen geworden ist, die mit mir gereist sind. Wenn ihr keine anderen gefunden habt …«
»Diese Antwort können dir nur die Geister geben. Wenn du so weit bist, werden wir sie vielleicht anrufen und fragen.«
»Wenn ich so weit bin?«
»Um mit Geistern zu sprechen, musst du stark sein. Jetzt bist du noch schwach.«
Da hatte sie recht. Marie fühlte sich noch ziemlich schwach, was sich nach dem kurzen Spaziergang besonders bemerkbar machte. Aber noch wollte sie sie nicht bitten zurückzukehren.
Onawah führte sie zu einer Pferdekoppel, in der ein paar sehr schöne, robuste Tiere standen, die weder Hufeisen an den Beinen noch Eindrücke von Sätteln auf ihrem Fell hatten. Zwischen ihnen tollten rote und schwarze Fohlen umher, die sich hin und wieder einen Biss einfingen, wenn sie den Älteren zu nahe kamen.
»Züchtet ihr diese Pferde?«, fragte sie, während sie sich gegen einen grob in den Boden gerammten Pfeiler lehnte. Das war wohl auch ein Grund, warum dieser Stamm nicht so schnell wegwollte.
»Ja, wir züchten und handeln mit Männern, die herkommen und Waren bringen. Zuerst handelten wir nur mit Büffel- und Wolfsfellen, doch jetzt auch mit Pferden. Weiße Männer brauchen starke Pferde, denn sie bringen sehr viel Waren.«
Kurz durchzuckte Marie der Gedanke, wann diese Händler hier wohl auftauchen würden. Wenn ihr Verlobter von dem Überfall erfuhr, würde er bestimmt glauben, dass sie tot sei, und sich ärgern, so viel Geld für nichts ausgegeben zu haben. Das wollte Marie nicht, doch sie wagte auch nicht, die Heilerin nach der Ankunft der Weißen zu fragen. Sie hatte sich so sehr um ihre Gesundheit bemüht, dass sie vielleicht vor ihrer Abreise noch etwas zum Dank tun sollte. Nur was? Kochen konnte sie nicht besonders gut, mit Pferden kannte sie sich nicht aus, und auch Handarbeiten waren nicht ihre Sache.
Doch etwas konnte sie recht gut: Englisch. Würden die Frauen und vielleicht auch die Männer, die diese Sprache noch nicht beherrschten, vielleicht Interesse haben, sie zu lernen? Und was war mit den Kindern, bekamen sie überhaupt irgendwelchen Unterricht? Wenn der Stamm nicht viel Kontakt zu Weißen hatte, konnten die Menschen hier doch etwas von ihr lernen!
»Wenn du willst, zeige ich dir, wie man Pferd ohne Sattel reitet«, erklärte Onawah, die Maries gedankenvolles Starren den Pferden zuschrieb.
»Das wäre sehr schön«, entgegnete Marie höflich. »Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.«
»Das musst du lernen, wenn du hier leben willst. Auf einem Pferd sitzen ist ebenso wichtig wie wissen, wo Büffel hinzieht.«
Der Gedanke, für immer bei diesem Stamm bleiben zu müssen, jagte Marie kurz einen Schrecken ein, doch dann dachte sie wieder an
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