Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
die Händler. Sobald sie auftauchten, würde sie fragen, ob sie sie mitnahmen. Und in der Zwischenzeit würde sie versuchen, sich ein wenig nützlich zu machen.
Nach dem Besuch der Pferdekoppel und einem kurzen Vortrag darüber, was bei der Pferdezucht wichtig war und welche Kräuter die Kraft der Hengste positiv beeinflussten, kehrten Marie und Onawah ins Lager zurück, wo sie bereits vom Häuptling und weiteren, älteren Kriegern erwartet wurden.
Erst jetzt erkannte Marie, dass Onawahs Führung durch das Lager wohl einer Art Plan folgte, dessen Höhepunkt das Treffen mit dem Anführer des Stammes und seinen Ratsmitgliedern war.
»Denke daran, du musst Kriegern immer in die Augen sehen«, flüsterte Onawah ihr zu. »Nicht frech, sondern mit Respekt. Aber auch nicht geduckt wie ein Hund.«
Bemüht um eine möglichst neutrale und offene Miene trat Marie schließlich vor und blieb in respektvollem Abstand zum Häuptling stehen. Der musterte sie streng und stellte ihren Blick auf eine harte Probe, als sich seine Augen wie Pfeilspitzen in ihr Gesicht bohrten. Obwohl der Mann schon etwas älter war, spannte sich seine gebräunte Haut glänzend über kräftigen Arm- und Brustmuskeln.
Sein breitflächiges Gesicht mit dem kräftigen Kinn drückte Entschlossenheit aus, seine Haltung war die eines Königs, wie Marie fand. Nicht einmal der deutsche Kaiser trat so aufrecht vor seine Untertanen.
»Du willkommen uns bist, weiße Frau. Onawah sagt, sie nennen dich Mari.«
Marie nickte der Einfachheit halber.
»Du kommen von Treck, nicht wahr?«
»Ja, wir wollten nach Westen.«
Der Häuptling stieß einen Unmutslaut aus. »Im Westen viele Städte voller Männer, aber keine Frauen.«
»Deshalb sollten wir dorthinreisen, als Ehefrauen dieser Männer. Unterwegs sind wir leider von Banditen überfallen worden.«
»Nur Männer ohne Ehre greifen Frauen an. Nicht viele Krieger euch begleiten.«
»Es waren etwa zwei Dutzend, inklusive der Wagenlenker. Die Banditen waren wesentlich mehr, ich habe aber leider nicht gesehen, wie viele.«
»Diese Männer auch gefährlich für unsere Frauen. Krieger begleiten sie, wenn sie wandern durch den Wald.« Der Häuptling beugte sich ein wenig vor. »Wenn du willst, du kannst bleiben hier und heiraten Mann der Wiyiniwak.«
Marie zwang sich, nicht fragend zu Onawah zu blicken, sondern weiterhin den Blick des Häuptlings zu erwidern.
»Ich danke für die Gastfreundschaft.«
Hatte er sie nicht richtig verstanden? Der Häuptling betrachtete sie jetzt streng und auch ein bisschen fragend. Hätte sie vielleicht etwas anderes antworten sollen? Aber ihr stand nicht der Sinn danach, hier einen Mann zu heiraten. Außerdem war sie verlobt, und dieses Versprechen musste sie einlösen, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das anstellen sollte.
Als sie dem Häuptling den Rücken kehrten, fragte Marie im Flüsterton: »Was sind die Wiyiniwak?«
»Das ist unser Name. Die Weißen nennen uns Cree, aber wir sagen Wiyiniwak.«
»Und was meinte der Häuptling mit Heiraten? Ich habe einen Verlobten.«
Onawah lachte auf. »Du musst nicht heiraten, wenn dir der Mann nicht gefällt. Aber wenn doch, kannst du es tun. Wir haben gern Frauen aus anderem Stamm hier, sie bekommen gute Kinder.«
Marie schluckte. Sie hatte eigentlich nicht vor, so lange zu bleiben. Doch was, wenn sie bleiben musste? Wenn es keine Möglichkeit gab, von hier fortzukommen?
10. Kapitel
Am Abend saßen sämtliche Stammesmitglieder um ein großes Lagerfeuer. Wortfetzen, die sie nicht verstand, umschwirrten Marie wie Moskitos. Speisen und Getränke in grob geflochtenen Körben wurden weitergereicht. Immer wieder steckten Frauen kichernd die Köpfe zusammen, nachdem sie zu ihr herübergeschaut hatten. Böse Absichten erkannte Marie aber nicht, vielmehr schienen die Menschen hier sehr neugierig auf sie zu sein. Nach einer Weile kam die Frau zu ihr, die ihr am Nachmittag aufgrund ihrer guten Englischkenntnisse aufgefallen war.
»Ich werde bald Frau von Matahi sein«, erklärte sie, während sie sich neben ihr niederließ. »Du auch Frau von Krieger?«
Marie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin einem Mann versprochen.«
»Und er ist Krieger?«
»Nein, er …« Marie überlegte. Wie sollte sie ihr klarmachen, dass es ein Geistlicher war? Mit der christlichen Kirche wussten sie sicher nicht viel anzufangen.
»Er ist so etwas wie ein Schamane.«
Die junge Indianerin runzelte die Stirn.
»Medizinmann?«
Der Einfachheit halber
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