Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
nickte Marie. Die Indianerin schien beeindruckt.
»Dann du wirst große Frau werden!«
»Ich weiß nicht, ich …«
Sie wurden unterbrochen.
»Das habe ich gefunden, als ich dir dein Kleid auszog.«
Zuerst sah Marie die pappgebundene Kladde, dann die Hand, die zu Onawah gehörte. Lächelnd setzte sich die Heilerin neben sie. Ein paar Frauen blickten neugierig zu ihnen hinüber, verloren aber schon bald das Interesse und wandten sich wieder ihren eigenen Gesprächen zu. Die sprachbegabte Indianerin musterte sie interessiert.
»Oh, ich danke dir!«, rief Marie begeistert aus. Nachdem sie das Buch kurz in den Händen hin und her gedreht hatte, schlug sie es auf. Da waren sie, die Worte, die sie während der Fahrt in das Buch geschrieben hatte, Erinnerungen an ihre Kindheit, Schatten der Vergangenheit.
»Als du besessen warst vom Fiebergeist, hast du im Traum in fremder Sprache gesprochen«, sagte die Heilerin, die neugierig auf die Seiten blickte. »Sind diese Zeichen deine Sprache?«
»Ja, das ist unsere Art zu schreiben.«
»Und was schreibst du?«
»Erinnerungen. Ich möchte sie festhalten, damit ich sie nicht vergesse.«
»Du sie nicht in deinem Herzen?«
»Doch, das habe ich, aber …« Marie suchte nach den richtigen Worten. »Aber sie machen mein Herz schwer. Deshalb schreibe ich sie auf, damit ich sie loswerde, aber dennoch bei mir tragen kann.«
»Erinnerungen gehören zu dir. Zu jedem Menschen. Kein Mensch ist ohne Erinnerungen.«
»Meine waren nicht immer gut.«
»Auch Böses gehört zum Menschen. Es macht ihn stärker.«
Tränen verschleierten Maries Augen, als sie in die Flammen sah. »Ich will es ja auch nicht vergessen. Ich will es nur nicht mehr auf der Seele liegen haben.«
»Die Seele ist der Ort vieler Dinge. Die Götter haben sie groß gemacht, damit viel hineinpasst.« Onawah sah sie prüfend an. »Aber wenn du meinst, im Buch ist sie besser aufgehoben, dann schreib sie hinein.«
Als Onawah sich nach einer Weile erhob und auch die neugierige Cree-Frau verschwunden war, blickte Marie auf das Buch. Die Seiten waren ein wenig aufgeweicht, ein langer Kratzer zog sich über den Buchdeckel, aber ansonsten war es unversehrt.
War es wirklich so, wie die Heilerin sagte? Sollte sie ihre Erinnerungen lieber in sich aufbewahren als in dem Buch? Ein Buch konnte gelesen werden oder verloren gehen …
Nein, ich werde fortfahren und dann entscheiden, was damit geschehen soll, beschloss sie.
Nachdem mein Vater zugestimmt hatte, mich ebenfalls unterrichten zu lassen, ging ich Seite an Seite mit meinem Bruder jeden Morgen ins Schulhaus. Zusammen mit ihm saß ich im großen, nach Kreide und Bohnerwachs riechenden Klassenzimmer und beneidete ihn dafür, dass er die Buchstaben, die mir noch so schwerfielen, wesentlich besser schreiben konnte. Auch das Lesen ging bei ihm deutlich fließender, ganz zu schweigen vom Rechnen.
»Keine Sorge, Mariechen, du wirst besser werden, warte nur ab.«
Am Nachmittag saß ich oft in der Küche über meiner Schiefertafel und übte die Buchstaben, während Luise das Abendessen vorbereitete. In dieser Zeit war sie sehr still. Ich fragte mich, ob es daran lag, dass mein Vater in ihrer Schlafkammer gewesen war. Eigentlich hatte ich verdrängen wollen, was ich gesehen hatte, doch die Bilder kamen immer wieder, wenn ich Luise sah. Obwohl sie mich damals gesehen hatte, war nichts passiert. Mein Vater hatte mich nicht bestraft, und Luise behandelte mich unvermindert freundlich.
Aber etwas war anders. Ein Schatten schien durchs Haus zu ziehen, sodass ich froh war, wenn ich in die Schule gehen konnte. Peter bemerkte ihn nicht, doch er lachte mich auch nicht aus, wenn ich ihm meine Angst gestand.
Eines Tages veränderte sich Luise. Ihre vormals strahlenden Wangen wurden blass, dunkle Schatten erschienen unter ihren Augen. Immer häufiger schien sie Übelkeit zu plagen, manchmal schlug mir saurer Geruch entgegen, wenn ich am Morgen die Küche betrat.
Luise versuchte, ihre Arbeit so gut wie möglich zu erledigen und sich nichts anmerken zu lassen. Doch eines Tages, als Peter und ich nach Hause kamen, fanden wir sie neben dem Küchentisch, wo sie zusammengebrochen war. Die Schüssel, die sie vor sich hergetragen haben musste, war zu Boden gefallen und hatte ihren Inhalt halb auf sie ergossen.
Der Arzt, den ich schon von den Besuchen bei meiner Mutter kannte, verbrachte viel Zeit in Luises Kammer. Als wir die Tür gehen hörten, zerrte mich Peter zur Treppe, und wir
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