Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Warum? Gab es etwas Wichtiges?
»Du suchst Weisheit, Mari?«, fragte sie, als sie sich neben sie stellte.
»Ach, ich habe mir nur euer Dorf angesehen«, entgegnete sie, während sich der Mantel der Nacht ringsherum immer dunkler verfärbte. »Es sieht von Weitem so friedlich aus.«
»Friede gab es nicht immer in unserem Volk. Früher herrschte Krieg, ein furchtbarer Krieg. Wir paktierten mit anderem Stamm, um Landräuber zu verjagen.«
»Und jetzt seid ihr auf dem Land sicher?«
»Dieses Land haben uns weiße Männer gegeben. Sie sagen, hier leben wir besser.« Zweifel war auf Onawahs Miene zu sehen.
»Aber du glaubst nicht, dass ihr hierbleiben dürft, oder?«
»Weiße Männer werden schnell mehr. Sie kommen wie du auch aus anderen Teilen der Welt. Eines Tages wir werden nicht mehr genug Büffel haben und sterben.«
Marie blickte sie entsetzt an. »Das darf nicht geschehen!«
Onawah neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Willst du den Wind aufhalten? Der weiße Mann ist wie ein Sturm. Vielleicht finden wir einen Ort, wo wir in Sicherheit sind. Vielleicht aber auch nicht. Es liegt in den Händen der Götter.«
Stille trat zwischen die beiden Frauen. Eine jede blickte nun ihren eigenen Gedanken folgend auf das Lager.
»Du solltest mitkommen, sonst verpasst du das Fest«, sagte Onawah mit einem aufmunternden Lächeln.
Marie hatte es fast vergessen: Es gab einen Grund für die Feuer und den köstlichen Duft! Kurz nach ihrer seltsamen Unterredung mit Onawah waren ein paar Krieger heimgekehrt, die Büffel erlegt hatten. Von dem Tier waren nur ein Fell und blutige Fleischklumpen geblieben, denn die Jäger hatten es an Ort und Stelle zerlegt. Der Gedanke, endlich Büffelfleisch kosten zu dürfen, ließ Marie das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Doch Fleischstücke waren es nicht, die über den Feuerstellen brutzelten. In den riesigen Kesseln schwappte eine rotbraune Flüssigkeit.
»Was kochen die Frauen?«, erkundigte sich Marie, während sie neugierig den Hals reckte.
»Büffelblutsuppe«, antwortete Onawah mit leuchtenden Augen. »Das Beste, wenn der Büffel frisch erlegt wurde.«
Maries Kehle schnürte sich zu. Sie erinnerte sich noch mit Schrecken an die aus Gänseblut und Essig zubereitete Blutsuppe, die Schwarzsauer genannt wurde. Luise hatte sie oftmals dazu angestellt, das Blut im Kessel zu rühren, damit es nicht gerann. Der Geruch hatte Marie noch Tage später verfolgt.
Die Büffelblutsuppe roch anders, weshalb sie zunächst glaubte, dass Onawah sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Doch wenig später sah sie die schwarzrote Flüssigkeit mit eigenen Augen. Blasen schlagend bewegte sich die Oberfläche. Noch immer war Marie nicht wohler zumute. Der Gedanke, Blut zu sich zu nehmen, war seit jeher ein Gräuel für sie gewesen. Sie wandte sich ab und hoffte, irgendeine Ausflucht finden zu können, um die Suppe nicht essen zu müssen, ohne Onawah und die anderen Frauen zu beleidigen.
Bevor es allerdings an die Mahlzeit ging, fanden sich die Krieger in der Mitte des Lagers zusammen. Viele von ihnen hatten ihren prachtvollsten Schmuck aus Fellen, Lederbändern und Holzperlen angelegt. Der Häuptling trug einen Kopfschmuck, der mit den blank polierten Hörnern eines Büffels verziert war.
In dem Tanz, der nun folgte, stellte er offenbar den Büffel dar, das Zeichen für Leben und Fruchtbarkeit unter den Cree. Unter den hypnotischen Gesängen der Frauen und dem Trommeln einiger Männer, die nicht am Tanz teilnahmen, erzählten die Tänzer, soweit Marie das erkennen konnte, die Geschichte ihres Jagdzuges. Wie sie den Büffel aufgespürt und umzingelt hatten, wie sie ihm nachstellten und schließlich im Kampf besiegten. Am Ende des Tanzes stießen sämtliche Frauen einen schrillen Laut aus, der in Maries Ohren vibrierte, gleichzeitig aber etwas in ihrer Brust zu lösen schien. Es war, als würde sich ein Knoten öffnen, einer, den sie schon lange mit sich herumgetragen hatte.
Als es wieder still wurde, blickte Marie keuchend auf die Tänzer, die sich wieder auf ihre Plätze zurückzogen.
Was war das gewesen? Zitternd griff sie sich an die Brust. Doch dort spürte sie nur den kräftigen Schlag ihres Herzens. Ihr Atem ging etwas schnell, aber gleichmäßig. Nein, mit ihr war alles in Ordnung. Es war nur so, als sei etwas verschwunden, das sie zuvor noch belastet hatte. Und Marie konnte nicht einmal sagen, was es gewesen war.
Luise verließ das Haus eine Woche später mit all der spärlichen Habe, die sie
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