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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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inne, legte dann den Strauß aus der Hand und sah sie an. »Wölfe mit weißem Fell sind sehr selten. Wir glauben, sie sind Boten aus dem Totenreich.«
    Ein Schauder überlief Marie trotz der Hitze, die durch den Zelteingang strömte. Boten aus dem Totenreich …
    Unsinn, schalt sie sich. Es ist ihr Glaube, nichts weiter. Eine Geschichte wie zu Hause die Märchen von Irrlichtern oder Wiedergängern.
    »Ich weiß, dass es im Norden Polarwölfe gibt«, begann sie, ohne auf die Bemerkung mit dem Totenreich einzugehen. »Kann es sein, dass sich diese Tiere bis hierher verirren? Immerhin gibt es auch hier Berge, auf denen Schneekuppen liegen.«
    Der Blick der Heilerin nahm einen seltsamen Ausdruck an. Beinahe beschwörend musterte sie Maries Gesicht, bevor sie fragte: »Du hast den weißen Wolf gesehen?«
    Marie nickte beklommen. Trotz der Ahnung, dass Onawah ihr Dinge erzählen würde, die sie nicht hören wollte, antwortete sie: »Ja, als wir noch auf dem Weg hierher waren. Es war sehr seltsam, denn der Wolf machte keine Anstalten, mich anzugreifen. Er sah mich nur an, dann drehte er wieder bei. Und vor einigen Tagen …«
    Marie stockte. Soll ich ihr das auch erzählen? Wahrscheinlich bestärkt sie das nur in dem Glauben, dass ich einen Todesboten gesehen habe.
    »Vor einigen Tagen?«
    Täuschte sie sich, oder erbleichte Onawah nun?
    »Ich hatte einen Traum«, antwortete Marie zögerlich, während sie zum Zelteingang schielte. Am liebsten wäre sie nach draußen gelaufen, doch ihre Beine waren wie angewurzelt. »Ich habe den Wolf gesehen und ihn heulen gehört. Er wollte mir einen Weg zeigen, doch da war plötzlich Nebel, und ich konnte ihm nicht folgen.«
    Marie begann zu zittern, als läge sie erneut im Fieber. Dass Onawah nicht gleich antwortete, verstärkte ihr Unwohlsein noch.
    »Weißer Wolf ist ein sehr mächtiges Totem«, begann die Heilerin nachdenklich. »Wenn er dein Tier ist, das dir Kraft gibt, könntest du eine große Schamanin werden.«
    Totem? Was redet sie denn da? Marie ertappte sich dabei, dass sie nervös an ihrem Ärmel nestelte. Sie und eine Schamanin? Sie war Lehrerin, nichts weiter.
    »Was … was ist ein Totem?«, fragte sie verwirrt.
    »Ein Schutzgeist. Sehr mächtiger Schutzgeist. Er wacht über dich.«
    »Also ist er kein Todesbote?«
    »Es kommt darauf an. Du siehst den Wolf im Traum und auch in Wirklichkeit, also ist er dein Totem. Bote des Todes ist er nur im Traum.«
    Wohler war Marie damit aber immer noch nicht.
    »Und was tut so ein Schutzgeist?«
    »Er hilft dir, wenn du in Not bist. Wenn du deinen Geist öffnest für ihn, dann gibt er dir viel Macht.«
    War sie hier in Not? Bislang hatte sie im Indianerlager keine Feindseligkeit gespürt.
    Onawah wandte sich nun wieder den Kräutersträußen zu, doch ihre Gesichtsfarbe war noch nicht wieder besser geworden. Gedankenvoll ordnete sie die Zweige und band sie mit Grashalmen zusammen, während Marie sie noch immer verwirrt und erschüttert musterte.
    Ein Tier, das als Todesbote galt, sollte ihr Schutzgeist sein …
    Marie wollte den Kopf schütteln und das alles als Unsinn abtun, doch das konnte sie seltsamerweise nicht. Papa hätte das alles einen heidnischen Irrglauben genannt und verlangt, dass ich ihn mir aus dem Kopf schlage. Doch was, wenn hier andere Götter herrschen? Deutlich hatte sie wieder die ängstlichen Gebete der Frauen während des Überfalls im Ohr …
    »Heute Abend zeige ich dir den See, in dem die Sonne badet«, eröffnete ihr Onawah aus heiterem Himmel, nachdem sie ihr Sträußchen fertig gebunden hatte.
    Nun waren ihre Wangen wieder rosig, und auch die düsteren Gedanken schienen verflogen zu sein. Bei Marie war das noch nicht der Fall, dennoch nickte sie und machte sich wieder an die Arbeit.
    Als vor den Zelten die ersten Feuerstellen aufflammten und ein köstlicher Duft zwischen den Tipis hing, machte Marie einen kleinen Spaziergang durch den angrenzenden Wald. Sie wagte sich allerdings nur so weit hinein, bis sie das Lager aus der Ferne überblicken konnte.
    Der Anblick erfüllte sie mit einem Frieden, den sie bislang nicht gekannt hatte. Da liefen die Weißen ihren Wünschen und Träumen hinterher, und diese Menschen lebten noch immer so wie vor vielen hundert Jahren, nur bestrebt, ihre Pferde zu züchten, Büffel zu jagen, ihr Territorium zu behaupten und den Erhalt des Stammes zu sichern. Welches war die bessere Lebensweise?
    Ein Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Onawah war ihr durch das Gestrüpp gefolgt.

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