Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
in seinem Anzug ein wenig schmächtig.
Maries Herz begann zu rasen. Das war also ihr Bräutigam!
Leider hatte er es versäumt, ihr ein Bild von sich zu schicken, dementsprechend war sein Anblick eine Überraschung für sie. Sie hatte ihn sich als großen, würdevollen, dunkelhaarigen Mann vorgestellt, das komplette Gegenteil zu ihrem Vater.
Sein herzliches Lächeln nahm Marie jedoch sogleich für ihn ein.
»Miss Blumfeld!« Mit ausgestreckten Armen kam er auf sie zu. Marie war ein wenig unsicher. Sollte sie ihm entgegenfliegen? Das erschien ihr irgendwie nicht passend. Sie blieb also stehen und erwiderte das Lächeln.
»Es freut mich, dass Sie endlich hier sind. Ich bin Jeremy Plummer.«
»Sag doch Marie zu mir«, entgegnete sie. »Immerhin sind wir verlobt.«
Für einen Moment wirkte Jeremy, als sei ihm das entfallen. »Natürlich.« Er räusperte sich ein wenig verlegen, bevor er fragte: »Miss Jackson hat mir erzählt, dass du mit Pelzhändlern gereist bist.«
»Ja, sie haben mich vor einigen Tagen im Lager der Cree nahe dem Lake of the Woods ausfindig gemacht und mitgenommen.«
»Im Lager der Cree? Bei den Indianern also?« Beunruhigt blickte er zu der Organistin, die genauso überrascht war wie er selbst.
»Ja, bei Indianern.«
»Bist du entführt worden?«
Marie, die die plötzliche Unruhe der beiden nicht verstehen konnte, schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben mich aufgenommen und gesund gepflegt, nachdem unser Treck überfallen wurde.«
Die Organistin schlug die Hand vor den Mund. »Sie armes Kind!«
»Wie Sie sehen, lebe ich noch und erfreue mich bester Gesundheit«, entgegnete Marie beruhigend.
»Dennoch ist es furchtbar, was Ihnen geschehen ist. Wir haben uns gleich gedacht, dass etwas Schreckliches passiert sein muss, nicht wahr, Reverend?«
Jeremy nickte. »Ja, wir fürchteten alle um dein Leben.« Ein wenig unsicher blickte er zu der Organistin, dann bot er ihr seinen Arm. »Ich würde dich gern jemandem vorstellen und dir dein neues Zuhause zeigen.«
Lächelnd hakte sich Marie bei Plummer ein.
Zu ihrer großen Überraschung führte dieser sie aber nicht ins Pfarrhaus nebenan, sondern schlenderte ein Stückchen die Straße entlang, bis sie vor einem zweistöckigen, etwas heruntergekommenen Haus haltmachten. Der Anstrich hätte schon vor einigen Jahren erneuert werden müssen, der Türklopfer war angelaufen von den vielen Händen, die ihn berührt hatten. In den hohen Schiebefenstern, an denen hier und da der Kitt abgesprungen war, spiegelte sich der Nachmittagshimmel. Hinter einer Scheibe erblickte Marie kurz das Gesicht einer jungen Frau, bevor es sich mit einem Ausdruck des Erstaunens wieder hinter die Gardinen zurückzog.
Jeremy führte sie die Treppe hinauf und trat ohne zu klopfen ein.
»Das ist das Haus meiner Tante Stella Ferguson. Wir werden ihr eine ziemliche Überraschung bereiten, nehme ich an.«
Während sich Marie fragte, warum sie im Haus der Tante wohnen sollte, zog Jeremy sie auch schon in die Eingangshalle, die mit einem braun gemusterten Teppich ausgelegt war. An den Wänden hingen Stickbildchen und kleine Gemälde, die Blumen und Landschaften zeigten. Eine braune, mit Schnitzereien verzierte Holztreppe führte in die obere Etage.
»Auntie?«, rief Jeremy durchs Haus. »Tante Stella?«
Die Frau, die wenig später aus der Küche geeilt kam, wirkte etwas jünger als fünfzig, trug das kastanienbraune Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden und hatte ein schwarzes Kleid an, das darauf hindeutete, dass sie vor nicht allzu langer Zeit Witwe geworden war.
Hinter ihr tauchte eine Frau auf, die etwas jünger als Marie sein musste. Da sie der ersten Frau wie aus dem Gesicht geschnitten war, ging Marie davon aus, dass es sich um Stellas Tochter handelte.
»Mein Junge, was ist denn los?«
»Marie ist angekommen!«, berichtete Jeremy. »Meine Verlobte.«
Stella musterte Marie geradezu schockiert. »Du lieber Himmel, Sie sind wieder aufgetaucht!« Offenbar hatte sie gar nicht mehr damit gerechnet.
»Marie, das ist meine Tante Stella und meine Cousine Rose! – Tante, das ist Marie Blumfeld.«
Marie reichte ihnen die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Während sich die jüngere der beiden beinahe ängstlich zurückhielt, ergriff Stella ihre Hand, als wollte sie sie ihr abreißen.
»Willkommen in Kanada, meine Liebe. Sie werden sehen, wir sind ein stolzes Land, und es freut mich, dass Sie am Aufbau unserer Nation mitwirken wollen.«
Eine etwas seltsame
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