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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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Kapitel

    Während der anschließenden Teestunde wollte Stella alles Mögliche über Marie wissen. Auf ihrem schon etwas verschlissenen Empirestuhl thronend, neben sich Rose auf einem passenden Hocker, fragte sie nach Maries Herkunft und ihrer Familiengeschichte, nach ihrem Haus und ihrer Heimat.
    Marie antwortete so höflich wie möglich, sparte aber Dinge aus, die sie auch Fremden beim ersten Zusammentreffen nicht offenbarte. Außerdem gab es einiges, was überhaupt niemand außer ihr wissen durfte. Aus diesem Grund hatte sie ja auch ihr Tagebuch unter dem Bett versteckt – vorerst, denn dieses Versteck erschien ihr nicht sicher genug.
    Während sie sprach, musterte Stella sie durchdringend, als sei sie in der Lage, in die Seele ihres Gegenübers zu schauen.
    »Wie kommt es eigentlich, dass Sie sich entschlossen haben, nach Kanada auszuwandern? Männer müsste es doch in Ihrem Heimatland zur Genüge geben.«
    »Nun ja, vor zehn Jahren gab es einen Krieg, in dem viele junge Männer getötet wurden. Die Nachwirkungen sind immer noch zu spüren.«
    Marie wurde das Gefühl nicht los, dass Stella den eigentlichen Grund ihrer Ausreise ahnte. Doch niemals würde sie ihn ihr offenbaren. Welches Licht würde es denn auf sie werfen? Sie war ja noch nicht einmal sicher, ob sie es je ihrem Gatten erzählen würde. Oder einem Mann, den sie liebte.
    Um noch einen Moment Bedenkzeit zu haben, nahm sie einen Schluck Tee und genoss das Gefühl, als er ihre Kehle hinunterrann. Wie lange hatte sie schon keinen Tee mehr getrunken! Auch das hatte sie auf der Überfahrt und auf dem Treck vermisst.
    »Die wirtschaftliche Situation in unserem Land ist sehr schlecht«, erklärte sie weiter. »Besonders auf dem Land. Sehr viele Menschen entschließen sich, ein neues Leben anzufangen, entweder in Amerika, Australien oder Kanada. Ich habe sogar von Leuten gehört, die nach Neuseeland gehen, ans andere Ende der Welt. Als schlecht verdienende Lehrerin ohne familiären Rückhalt habe ich keinen anderen Ausweg gesehen als auszuwandern.«
    »Sie sind Waise?«
    Marie schlug die Augen nieder. »Ja, meine Eltern sind tot.« Dass dies nur teilweise stimmte, würde Stella nicht überprüfen können. Seit dem Vorfall, der ihr Leben ins Chaos gestürzt hatte, war ihr Vater für sie gestorben, und nichts konnte ihn ins Reich der Lebenden zurückbringen.
    »Du hast anscheinend wirklich großes Pech im Leben gehabt.« Stellas Stimme verlor jetzt den abweisenden Klang und wurde beinahe mitfühlend. Wenig später fühlte Marie den Spitzenhandschuh, in dem Stellas Hand steckte, auf ihrem rechten Handrücken. Das brachte sie dazu, wieder aufzublicken.
    »Aber von nun an hast du eine Familie. Wir sind zwar auch nicht mehr komplett, mein Mann starb vor sieben Jahren, und wie du gehört hast, ist Jeremys Mutter auch dahingeschieden, doch wir sind immer noch da, und ich bin sicher, dass wir zu altem Glanz zurückfinden werden, sobald ihr beide verheiratet seid und sich Nachwuchs einstellt.«
    »Vielen Dank, das hoffe ich von ganzem Herzen.« Als Marie erneut einen Schluck Tee nahm, war sie gewillt zu glauben, dass Stella recht hatte. Dass sich alles zum Guten wenden würde.
    Noch vor dem Abendessen hatte sich Marie bereits so gut es ging eingerichtet. Natürlich hatte sie ihrer Unterkunft keine persönliche Note verleihen können, dazu fehlte ihr das Geld. Aber sie hatte die leichteren Möbel ein wenig verrückt und sich von Stella einen alten Schreibtisch erbeten; sogar ein wenig Papier, Tinte und einen Federhalter gab es hier. Das würde reichen, um ihre nächtlichen Aufzeichnungen fortzuführen.
    Als sie sich am Esstisch einfanden, war Jeremy immer noch nicht da, was Stella allerdings gelassen nahm.
    »Manchmal überfallen ihn die Leute auf der Straße, und gutherzig, wie er ist, gibt er natürlich nach und kümmert sich um ihre Belange.«
    Das Abendessen bestand zur Feier des Tages aus einer köstlichen Kürbissuppe und Roastbeef, das Rose noch schnell hatte besorgen müssen.
    Beim Duft des gebratenen Fleisches erinnerte sich Marie wieder an das Büffelfest bei den Cree. Was Onawah jetzt wohl tat? Stand sie wieder am See und beobachtete, wie die Sonne im Wasser ihr abendliches Bad nahm?
    »Schmeckt das Roastbeef, meine Liebe?« Stellas Worte fegten ihre Gedanken hinfort.
    »Ja, Ma’am, ausgezeichnet.«
    »Nenn mich ruhig Auntie, das tut Jeremy auch.«
    Marie lächelte ein wenig gezwungen. Bisher hatte Stella ihr noch keinen Grund gegeben, sie bei einem

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