Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
nickte Marie zu, dann ließ er sie mit seiner Tante und Cousine allein. Unangenehmes Schweigen folgte dem Klappen der Tür. Marie wunderte sich, wie schnell Jeremy verschwunden war. Lag es daran, dass sie von seiner verstorbenen Mutter gesprochen hatten?
Stella jedenfalls wirkte nicht so, als hätte sie ein Problem damit. Vielmehr schien sie noch immer schockiert darüber zu sein, dass Marie Kontakt mit den Indianern gehabt hatte.
»Du bist sicher hungrig und müde, nicht wahr?«
Marie nickte.
»Gut.« Stella überlegte einen Moment, dann wandte sie sich an ihre Tochter. »Rose, sei doch so gut und zeig Marie ihre Unterkunft. Ich werde uns inzwischen Tee kochen.«
Nachdem sie sie noch einmal abschätzig gemustert hatte, wandte sich Stella um und verschwand in der Tür, aus der sie gekommen war.
Rose wirkte verlegen. Auch Maries aufmunterndes Lächeln änderte da nichts. »In Ordnung, dann folge mir bitte«, sagte sie, während sie der Treppe zustrebte.
Von dem an die Treppe anschließenden Korridor gingen zwei gegenüberliegende Türen ab.
»Dort ist mein Zimmer«, erklärte Rose, während sie auf die rechte Tür zeigte. »Das andere ist unser Gästezimmer, aber ab sofort gehört es dir.«
»Und was macht ihr dann mit euren Gästen?«
»Die werden im Pfarrhaus untergebracht.«
Die Tür knarrte ein wenig, als Rose sie aufstieß. Das Zimmer dahinter war durch die beiden großen Fenster recht hell, doch es wirkte unpersönlich und steril. Der große Kleiderschrank neben der Tür schien ein uraltes Erbstück zu sein, die Kommode neben dem Fenster hatte nicht weniger Jahre auf dem Buckel. Das Messingbett wirkte noch recht neu, doch das Plaid auf der Bettdecke war ein wenig verblichen. An einer der Wände hing eines der unvermeidlichen Stickbildchen.
»Es ist sehr … nett hier«, sagte Marie, als sie in den Raum trat; dann schalt sie sich im Stillen. Was hast du denn erwartet?, dachte sie. Die gesamte Stadt ist noch im Aufbau, und so richtig reich ist keine der Familien. Du weißt doch selbst, wie es Pastorenfamilien ergeht.
»Du kannst natürlich alles so einrichten, wie du möchtest. Wo ist dein Gepäck?«
»Das habe ich beim Überfall verloren.«
»Und bei den Indianern …« Rose stockte, als hätte sie sich an etwas verschluckt.
»Ich habe von dort nichts mitgenommen«, antwortete Marie sanft. »Alles, was ich besitze, trage ich an meinem Körper.« Und in meinem Herzen. Die Worte ihres Bruders fielen ihr wieder ein. Was in deinem Herzen ist, kann dir niemand nehmen.
Jetzt lag Mitleid in Roses Blick. »Wenn du willst, kann ich dir etwas Unterwäsche leihen, damit du deine waschen kannst. Außerdem haben wir unten ein Bad.«
Marie lächelte sie breit an. »Das ist wirklich lieb von dir. Magst du mir das Bad zeigen?«
Der Anblick des gekachelten Raumes versetzte Marie in Staunen. In der Mitte stand eine Sitzbadewanne mit Löwenfüßen, neben der eine kleine Pumpe angebracht war, aus der man direkt kaltes Wasser pumpen konnte. Für warmes Wasser gab es einen eisernen Kohleherd, auf dem ein großer Topf stand, wie Marie ihn vom Einwecken kannte. Für die kleine Wäsche gab es einen Waschtisch mit Kanne und Schüssel, die mit einem zarten Rosenmuster verziert waren. In den Glasflaschen auf dem Regal befand sich Badeöl.
»Das ist unser Badezimmer«, verkündete Rose stolz, als sie Maries Erstaunen bemerkte. »So etwas habt ihr sicher nicht in Deutschland.«
»Wir haben dergleichen auch«, entgegnete Marie, die Spitze ignorierend. »Allerdings kann sich nicht jeder Haushalt solch ein Bad leisten. Die meisten Bäder bestehen nur aus einer Wanne und einem Kohleofen für warmes Wasser; kaltes Wasser wird aus der Küche herbeigeschafft.«
»Nun, dann findest du hier etliches mehr an Komfort«, platzte Rose heraus; dann setzte sie leiser hinzu: »Beeil dich aber, der Tee ist gleich fertig, und meine Mutter schätzt es nicht, wenn er kalt wird.«
Als sie verschwunden war, füllte Marie die Wanne und legte dann ihre Kleider ab. Das Tagebuch legte sie sorgsam neben das Haarband. Alles, was ich besitze, trage ich am Körper, dachte sie dabei ein wenig wehmütig. Aber gleichzeitig war sie auch froh, dass die beiden wichtigsten Schätze, die sie besaß, nicht verloren gegangen waren.
Da sie das kalte Wasser bereits gewohnt war, goss sie ein wenig Fichtennadelöl dazu und ließ sich dann in die Fluten gleiten, um sich für einen Moment der Illusion hinzugeben, wieder im Indianerlager zu sein.
18.
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