Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
weniger mit uns gesprochen hatte. Dennoch übermannte mich eine Welle der Trauer, die ich nie zuvor gekannt hatte. Ach, wäre es uns doch vergönnt gewesen, Mutter besser kennenzulernen! Sicher hatte sich in dem Körper, der von Geburt und Schwermut gezeichnet war, ein wunderbarer Geist befunden, der nur nicht die Gelegenheit bekommen hatte, sich zu entfalten.
Der Anblick ihres wächsernen Gesichts war ein Schock für mich. Obwohl die Totenfrau ihr Bestes getan hatte, um den Tod von ihren Zügen verschwinden zu lassen, erinnerte auf diesem Gesicht nichts mehr an meine Mutter. Oder lag es daran, dass in meiner Seele ein anderes Bild von ihr existierte?
Nachdem wir uns von Mutter verabschiedet hatten, gingen Peter und ich in den Garten. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass eine Eisenklammer meine Brust zuschnürte, konnte ich nicht weinen. Da Mutter immer recht still gewesen war und ihr abgedunkeltes Zimmer kaum einmal verlassen hatte, fiel es im Haus gar nicht weiter auf, dass sie nicht mehr da war. Was meinen Schmerz verursachte, war die Tatsache, dass ihr Zimmer jetzt leer stehen würde, dass es die abendlichen Besuche nicht mehr geben würde. Und dass wir nun allein mit unserem Vater waren. Unserem Vater, der sich bestenfalls um Peter bemühte, aber nicht um mich.
»Jetzt hätte Luise Vater heiraten können«, bemerkte mein Bruder traurig, als wir durch den Garten gingen.
Ich sah ihn durch meinen Tränenschleier empört an. »Wie kannst du so was sagen? Mutter ist gerade gestorben!«
»Ich sage nur die Wahrheit. Vater hat Mutter schon nicht mehr geliebt, als sie krank wurde. Als sie keine Kinder mehr bekommen konnte.«
Da sagte er die Wahrheit, deren Beweis ich vor einigen Jahren mit eigenen Augen gesehen hatte.
»Ja, er hätte sie nehmen und mit ihr fortgehen sollen«, brummte Peter missmutig.
»Wenn er sie denn gewollt hätte.« Mittlerweile war ich alt genug, um zu wissen, dass die Beziehungen zwischen Menschen manchmal seltsam und kompliziert waren. »Wahrscheinlich wollte er nur …«
Als Peter mich ansah, verstummte ich. »Von solchen Dingen solltest du eigentlich noch gar nichts wissen!«
»Aber ich weiß es! Und ich weiß auch, dass die Männer die Frauen in ihrem Bett nicht immer heiraten wollen! Hast du nicht gesehen, wie kalt er war, als er gelesen hat, dass Luise tot ist? Jemand der liebt, ist nicht so.«
Peter überlegte eine Weile. »Vielleicht hast du recht«, lenkte er schließlich ein. »Vielleicht hat er sie nicht geliebt. Und vielleicht hat er auch Mutter nicht geliebt. Ja, wahrscheinlich hast du wirklich recht. Er sieht nicht aus wie jemand, der einen anderen liebt. Und er sieht schon gar nicht so aus, als ob er um jemanden trauern würde.« Damit legte er seine Hand auf meine Schulter und führte mich zum Fliederbusch, wo wir uns der Illusion hingaben, noch immer Kinder zu sein.
17. Kapitel
Auf der letzten Strecke wurde nicht mehr von dem Überfall gesprochen. Die Toten waren begraben, die Güter auf den Wagen würden neue Besitzer finden. Hin und wieder ließen die Männer eine Bemerkung fallen, der ein unangenehmes Schweigen folgte. Dann wurde das Thema gewechselt.
Ab und zu überkam Marie das Bedürfnis, über die verschleppten Frauen zu reden. Am liebsten hätte sie sie den Männern beschrieben, damit sie, wenn sie auf ihren Reisen zufällig einer von ihnen begegneten, sie erkennen und etwas unternehmen konnten. Doch es ergab sich keine Gelegenheit dazu.
Lediglich Philipp Carter schien zu spüren, dass ihr etwas auf der Seele brannte. Immer wieder bemerkte Marie seinen forschenden Blick, als versuchte er, hinter ihre Stirn zu schauen. Doch was konnte er allein tun? Wahrscheinlich würde er die Frauen vergessen haben, sobald er sie in Selkirk abgeliefert hatte. Also verzichtete Marie darauf, ihm von den anderen zu erzählen, auch wenn sie die Gelegenheit dazu hatte.
Einen Tag später tauchten Häuser am Horizont auf, die Marie zunächst für eine Sinnestäuschung hielt, wie sie in Berichten aus dem Orient beschrieben wurde.
»Sehen Sie, da hinten? In einer Stunde sind wir in Selkirk.«
Die Stadt lag an einem Fluss, der sich wie eine dunkle Ader durch das Gelände schlängelte.
»Das ist der Red River.« Carter deutete auf das von rötlichem Schlamm gefärbte Wasser. »Oder Northern Red River, wie man auch sagt, denn in meiner Heimat gibt es noch einen Fluss dieses Namens.«
Der Geruch nach frischem Holz wehte heran und brachte Marie dazu, kurz die Augen zu schließen und
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