Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
tief einzuatmen. Dann vernahm sie auch schon das monotone Kreischen einer Säge.
»Das Sägewerk ist noch ziemlich neu«, erklärte Philipp ihr. »Ich habe versucht, dort einen Job zu bekommen, aber wie Sie sich denken können, sind die Stellen dort in Windeseile weg gewesen. Unsere große Hoffnung ist die Eisenbahnlinie, die von Osten aus gebaut wird. Es wird gemunkelt, dass Selkirk ebenfalls angeschlossen werden soll.«
»Wollen Sie denn fort von Mr Jennings?«, fragte Marie, während sie die Augen wieder öffnete und auf das Sägewerk richtete, vor dem sich große Holzstapel türmten.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr Jennings ist ein guter Boss. Doch irgendwann will jeder Mann sesshaft werden. Ehemaligen Soldaten bleiben natürlich nicht viele Möglichkeiten. Manche haben nie ein richtiges Handwerk gelernt.«
»Ist das bei Ihnen der Fall?«
Carter schüttelte den Kopf. »Nein, vor dem Krieg war ich Stellmacher. Oder zumindest habe ich gelernt, einer zu sein. Mit achtzehn habe ich mich dann den Truppen angeschlossen. Und jetzt bin ich hier.«
Marie spürte, dass sein Schicksal nicht so leicht gewesen war, wie es sich anhörte. Jeder Krieg hatte seine Schrecken, und wahrscheinlich durchlitten alle Soldaten auf der ganzen Welt ähnlich furchtbare Dinge. Auf einmal tat es ihr leid, dass sie nicht mehr Zeit mit Carter verbringen konnte. Zu gern hätte sie sich von ihm erzählen lassen, was er alles erlebt hatte. Doch in der Stadt wartete ihr Verlobter auf sie – und eine neue Zukunft.
»Ich bin sicher, dass Sie eines Tages eine gute Stelle finden werden. Wenn Sie möchten, kann ich mich ein wenig in der Stadt umhören.«
Carter schien das einen Moment lang zu erwägen, dann schüttelte er den Kopf. »Lassen Sie es gut sein, Miss, Sie werden in den nächsten Wochen sicher anderes zu tun haben, als einen Job für einen Kriegsveteranen zu suchen. Außerdem werden wir weiter in Richtung Saskatoon reisen, um Ware von einem Handelsposten aufzukaufen und dann in der neuen Siedlung zu verkaufen. Es könnte viele Wochen und Monate dauern, bis wir wieder hier sind, bis dahin sind Sie bereits Ehefrau und vielleicht auch schon schwanger und haben mich vergessen.«
Er versuchte, seine Worte locker klingen zu lassen, doch Marie entging nicht, dass ein gewisses Bedauern darin mitschwang. Und ohne es zu wissen, versetzte er ihr damit einen kleinen Stich. Offenbar glaubte er, dass es für sie, wenn sie erst einmal verheiratet war, nichts anderes mehr geben würde als den Haushalt. Wie sollte sie ihn davon überzeugen, dass sie versuchen wollte, neben ihren Pflichten noch etwas fürs Gemeinwohl zu tun? Dass sie sich dafür einsetzen wollte, dass die Weißen sich den Cree annäherten und die Kinder Zugang zu Bildung erhielten?
Auf einer breiten Straße machte der Trupp schließlich halt. Jennings wendete sein Pferd und ritt zu ihr.
»Das ist die Main Street, von hier aus sollten Sie leicht dorthin kommen, wo Sie hinwollen«, sagte er, während er sich auf sein Sattelhorn stützte.
»Wollen Sie sich denn keine Belohnung von meinem Verlobten abholen?«
Jennings schüttelte den Kopf. »Ich habe schon seit vielen Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, geschweige denn bin ich einem Geistlichen über den Weg gelaufen. Ich ignoriere Gott, und er ignoriert mich, das klappt ganz gut, aber ich fürchte, er erschlägt mich mit einem Blitz, wenn ich mich einem seiner Vertreter nähere. Ich habe viel zu viel auf dem Kerbholz, als dass ich Wert darauf legen würde, ihn wieder an mich zu erinnern.«
Das bezweifelte Marie, denn sie sah in ihm einen anständigen Mann. »Dann hätte der Blitz Sie bereits jetzt treffen müssen, denn immerhin haben Sie der Verlobten des Reverends geholfen.«
»Verlobt ist nicht verheiratet«, winkte er ab. »Sie können es sich immer noch überlegen. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Miss, und vor allem sehr viel Glück mit Ihrem Mann!«
»Vielen Dank.«
»Ach ja, und das Pferd will ich natürlich wiederhaben, immerhin müssen wir neue Ware aufladen.«
»Natürlich.«
Als Marie aus dem Sattel steigen wollte, war Carter bei ihr. Er half ihr, so gut es ging, und ließ dann die anderen vorausreiten, um sich allein von ihr verabschieden zu können.
»Bei uns heißt es, man sieht sich immer zweimal im Leben«, sagte Carter lächelnd, als er ihr die Hand zum Abschied reichte.
»Dieses Sprichwort gibt es bei mir zu Hause auch«, entgegnete Marie.
»Dann muss es wohl stimmen. Also, ich freue mich auf
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