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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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standen, die sich die beiden nach dem Essen genehmigt hatten, saß Rose, die betreten zur Seite schaute, als sei ihr das, was nun folgte, bereits im Voraus peinlich.
    Marie fühlte sich wie vor einem Straftribunal, als sich Auntie auf ihren Platz setzte und sie mit verkniffenem Mund musterte. »Es ist jetzt kurz vor neun. Ich denke, der Unterricht ist schon um drei vorbei gewesen.«
    Marie zog verwundert die Augenbrauen hoch. Seit wann interessierte sich Stella denn für das Ende ihrer Arbeitszeit? In den Tagen zuvor hatte sie auch kommen und gehen können, ohne dass nachgefragt wurde. Hatten einige der Schaulustigen nichts anderes zu tun gehabt, als ihr brühwarm von der Prügelei zu erzählen?
    »Heute war Elterntag, und Mr und Mrs Isbel haben mich spontan zum Abendessen eingeladen.«
    »Aber das kann doch nicht so lange gedauert haben!«
    »Und auf dem Rückweg hat es einen Zwischenfall gegeben«, fuhr Marie fort. Wahrscheinlich wusste Stella längst Bescheid, warum sollte sie es also verschweigen? »Ich bin einem Mann zu Hilfe gekommen, der verprügelt wurde. Ich habe dafür gesorgt, dass er zum Arzt gebracht und versorgt wurde.« Dass sie Carter im Schulhaus untergebracht hatte, verschwieg sie.
    Stellas Miene zeigte, dass sie tatsächlich schon Bescheid wusste. »Ich bin sicher, dass du noch nicht weißt, was von dir erwartet wird. Keine ehrbare Frau mischt sich in einen Streit unter wildfremden Männern ein, schon gar nicht, wenn sie aus dem Pub kommen.«
    Maries Zorn ballte sich wie eine Faust in ihrem Bauch zusammen. »Hätte ich denn deiner Meinung nach zusehen sollen, wie ein Unschuldiger totgeschlagen wird? Ist das meine Pflicht als Frau des Reverends?«
    Die beiden Frauen funkelten einander an.
    »Woher wusstest du, wer von ihnen unschuldig ist?«
    »Der Mann, der verprügelt wurde, war einer von denen, die mich nach Selkirk begleitet haben. Oder, wie du es wohl nennen würdest, die mich vor den Indianern gerettet haben.«
    »Das beweist aber noch lange nicht seine Unschuld!«, fiel nun auch Rose ein.
    »Das tut doch nichts zur Sache, oder?«, schnappte Marie wütend. »Es ging mir nur darum, einen Menschen vor dem Tod zu bewahren, das ist alles. Und wenn das schon nicht die Pflicht der Verlobten des Reverends ist, so ist es meine Pflicht als Mensch und Christin!«
    Während Rose erschrocken zurückwich, lag Stellas Blick immer noch unverwandt auf Marie.
    Was mag jetzt noch kommen, fragte sie sich beklommen.
    »Morgen erwarte ich dich pünktlich zum Abendessen!«, sagte Stella nur noch und bedeutete ihr dann, dass sie gehen könne.
    Marie starrte Stella überrascht an. Gab sich die Tante so schnell geschlagen? Oder würde sie diese Unterhaltung fortführen, wenn Jeremy zugegen war?
    Als sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer stiefelte, dachte sie wieder an Philipp und hoffte, dass sein Abend besser verlaufen würde als der ihr bevorstehende.
    Nur eine Woche später stand die Kutsche vor unserer Tür, und ein stämmiger Mann im Kutschermantel lud meinen Koffer und meine Teppichstofftasche auf. Obwohl ich mir das Lyzeum immer gewünscht hatte, überkam mich furchtbare Traurigkeit, als ich meinen Bruder zum letzten Mal für lange Zeit in die Arme schloss.
    »Mach’s gut, Mariechen«, flüsterte er mir leise zu. »Und gib auf dich acht.«
    »Du auch.«
    Als ich in die Kutsche stieg, sah ich an Mariannes tränenverquollenem Gesicht vorbei zum Elternhaus. Etwas in mir hoffte, dass mein Vater wenigstens am Fenster stehen und mir nachsehen würde. Doch hinter dem Geviert herrschte lediglich Dunkelheit. Genauso wie an dem Tag, als Luise von hier fortgegangen war.
    Eine Weile fuhren wir über holprige Landwege, bis sich die Straße schließlich glättete. Da ich allein in der Kutsche saß, konnte ich es mir erlauben, mich auf der Sitzbank so gut wie möglich auszustrecken und mit geschlossenen Augen vom Lyzeum zu träumen. Wie würde es sein? Würde ich dort Freundinnen finden? In unserer Dorfschule waren die Mädchen nicht gerade erpicht darauf gewesen, mich zur Freundin zu haben, was mir aber nichts ausmachte. Ich hatte Peter, der nichts Schlechtes daran fand, dass meine Handschrift und auch meine Zensuren besser waren als die der anderen.
    Die Mädchen im Lyzeum, meinte der Schulmeister, seien alle wie ich, wohlerzogene, intelligente junge Frauen, die bestrebt seien, das Beste aus sich zu machen.
    Als die Kutsche schließlich haltmachte, waren sechs Stunden vergangen, und mein Hinterteil fühlte sich an, als

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