Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Tasche.
»Anderthalb Stunden nach dem Eingriff, und Sie sind weder gestorben, noch haben Sie Blut gespuckt. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass Sie es überleben werden, Mr Carter.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Doc«, entgegnete Carter, während er sich mit Duvals Hilfe aufsetzte.
»Danken Sie nicht mir, sondern der jungen Dame dort. Hätte die Ihren Angreifer nicht mit einem Spaten attackiert, lägen Sie jetzt in einer Holzkiste.«
Marie blickte den Arzt überrascht an. »Woher wissen Sie, dass ich …«
»Einer meiner Patienten hat es erzählt. Er war zugegen, als Sie Ihre Heldentat vollbracht haben. Sehr couragiert, Mademoiselle, allerdings auch sehr leichtsinnig. Wenn der Kerl Sie angegriffen hätte, hätte er Kleinholz aus Ihnen gemacht. Leider haben in dieser Stadt viele Männer so wenig Ehre im Leib, dass sie nicht davor zurückschrecken, die Hand gegen eine Frau zu erheben.«
»Ich konnte doch nicht zusehen, wie jemand zusammengeschlagen wird! Der Kampf war alles andere als fair; Mr Carters Gegner war wesentlich größer als er.«
»Aber ich wäre mit ihm fertig geworden, wenn mir nicht ein anderer einen Stuhl über den Schädel gezogen hätte«, wandte Carter verschmitzt lächelnd ein. »Ich habe schon mit Bären gerungen, die schwerer waren als dieser Typ. Aber im Gegensatz zu Bären kämpfen Menschen mit schmutzigen Tricks.«
»Damit bestätigen Sie voll und ganz die Sicht, die ich auf diese Welt habe, Mr Carter!« Duval klatschte beifällig in die Hände. »Ich glaube, wir können Sie wieder in die Welt entlassen. Die Rechnung schicke ich dem Wirt des Pubs, immerhin scheinen seine Rausschmeißer ihre Arbeit nicht zu verstehen.«
»Hätten die mich rausschmeißen sollen, als ich meine Meinung gesagt habe?«, fragte Carter aufgebracht.
»Nein, sie hätten den Kerl, der Sie gereizt hat, rauswerfen sollen. So würde ich es machen, wenn ich Ruhe in meinem Laden haben will. Bonne soirée!«
Der Gang durchs voll besetzte Wartezimmer kam Marie wie ein Spießrutenlauf vor. Neugierig reckten die Patienten die Hälse, als sie mit Carter im Schlepptau der Tür zustrebte. Wahrscheinlich würde sie morgen Stadtgespräch Nummer eins sein.
»Dann werde ich mir wohl draußen einen Platz zum Schlafen suchen«, sagte Philipp, als sie die Praxis verlassen hatten. »Wenn ich Glück habe, steht mein Pferd noch vor dem Lokal.«
»Kommt nicht infrage!«, platzte es aus Marie heraus. Die Idee, ihn im Pfarrhaus oder gar bei Stella unterzubringen, verwarf sie allerdings gleich wieder. Stattdessen fiel ihr ein anderer Ort ein. »Sie kommen mit mir, Mr Carter, für den Fall, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben.«
»Aber der Doc meinte doch, es sei alles in Ordnung.«
»Trotzdem will ich Sie nicht der Wildnis überlassen. Und im Pub werden Sie wohl kaum eine Unterkunft finden.«
»Schätze nicht.«
»Gut, dann folgen Sie mir.«
Entschlossenen Schrittes stapfte Marie in Richtung Schulhaus. Da die Isbels eine freundliche Gesinnung den Indianern gegenüber an den Tag gelegt hatten, würden sie sicher nichts dagegen haben, einen Mann aufzunehmen, der Prügel für seine Meinung eingesteckt hatte.
»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte Carter, während er humpelnd versuchte, mit Marie Schritt zu halten.
Als sie merkte, dass er ein Stück zurückgefallen war, blieb sie stehen. »An einen Ort, an dem Sie vollkommen sicher sein werden vor Angriffen von Hohlköpfen wie dem aus dem Pub.«
»In den Knast?« Philipps Gelächter wurde von einem schmerzvollen Stöhnen unterbrochen, mit dem er sich an den Kopf griff.
»Nein, in die Schule.« Auch Marie musste nun grinsen. »Ich wette, die hat Ihr Angreifer nie von innen gesehen.«
»Hören Sie auf, Miss Blumfeld!«, stöhnte Carter lachend. »Mir platzt gleich der Schädel.«
»Wir sind ja bald da, dann können Sie sich ausruhen.«
»Sind Sie sicher, dass ich dort niemanden störe?«
»Oben wohnt Mr Isbel mit seiner Frau, aber der wird nichts dagegen haben, glauben Sie mir!«
An der Schultür angekommen, blickte sich Marie noch einmal nach allen Seiten um, dann schloss sie auf. Das vertraute Gefühl der Geborgenheit umfing sie in dem Augenblick, als der Geruch des Bohnerwachses in ihre Nase drang.
»Und wo wollen Sie mich hier unterbringen?«, flüsterte Philipp, während er sich skeptisch umsah.
»Es gibt ein paar ungenutzte Räume im hinteren Teil des Gebäudes. Kommen Sie mit.«
Leise, aber dennoch forsch durchschritt Marie den Gang, bis sie
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