Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
hätte ich tausend Ameisen in der Unterhose. Es fiel mir schwer, aus der Kutsche zu klettern und mich dann aufrecht zu halten, denn ebenso wie meine Kehrseite waren auch meine Beine eingeschlafen. Außerdem machte sich auch wieder mein Ohr bemerkbar, indem es einen kleinen Schwindelanfall auslöste.
»Wird’s gehen, Mädchen?«, fragte der Kutscher, dem nicht entgangen war, wie wacklig ich auf den Beinen stand.
»Sicher.« Nachdem er mir meine Teppichstofftasche gereicht hatte, schritt ich über den gepflasterten Weg zum Tor, das einen überwältigenden Anblick bot. Die mit Patina überzogenen Gitterstäbe mündeten in bedrohlich wirkende Spitzen, die an Römerspeere erinnerten. In der Mitte der Gitter waren eiserne Lorbeerkränze eingelassen worden.
Da das Tor verschlossen war, zog ich am Glockenstrang daneben, worauf sich nur wenig später der Hausmeister blicken ließ.
»Du musst die neue Schülerin sein«, bemerkte er, als er mich einließ. »Komm mit, die Frau Rektorin erwartet dich bereits.«
Ich folgte ihm an gepflegten Blumenrabatten aus orangefarbenen und gelben Studentenblumen vorbei zu dem Internatsgebäude, das von hohen Stauden und Büschen umstanden wurde. Dass es hier Flieder gab, nahm ich als gutes Zeichen. Der Bau selbst erinnerte mich an eines der Regierungsgebäude in der Landeshauptstadt, wo der Herzog seinen Amtsgeschäften nachging. Weiße Mauern wurden von zwei Reihen hoher Fenster durchbrochen und von einem roten Ziegeldach gekrönt. Eine lange Freitreppe führte zum grün gestrichenen Eingangsportal, an dem ein Flügel weit offen stand. Von den anderen Schülerinnen war nichts zu sehen; dafür erklang in der Etage über mir ein Klavier, gefolgt von der glockenhellen Stimme eines Mädchens.
Die Schulleiterin Christiana Habermann war eine hochgewachsene, schlanke Frau mit kantigen, strengen Gesichtszügen, blauen Augen und einer tadellosen, wenn auch mit Silbersträhnen durchzogenen Steckfrisur. Der einzige Zierrat an ihrem grünschwarzen Taftkleid war ein feiner weißer Spitzenkragen. So, wie sie hinter dem schweren, geschnitzten Schreibtisch thronte, erschien sie mir wie die unnachgiebige Herrscherin eines kleinen Königreichs.
Nachdem ich geknickst und mich vorgestellt hatte, erhob sie sich und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Fräulein Blumfeld, Ihr Empfehlungsschreiben lobt Sie in den höchsten Tönen. Sie sollen in der Naturwissenschaft sehr bewandert sein.«
Was sollte ich dazu sagen? »Mich interessiert dieses Fach sehr.«
»Und auch Ihre Kenntnisse im Deutschen und Englischen werden gelobt. Das Erlernen von Sprachen scheint eines Ihrer Talente zu sein.«
Ich senkte errötend den Kopf. »Vielen Dank!«
»Danken Sie nicht mir!« Sie nahm einen Brief vom Schreibtisch und hielt ihn in die Höhe. »Schulmeister Hansen ist derjenige, der Sie in den höchsten Tönen lobt, nicht ich. Er schreibt mir, dass Sie eine hoffnungsvolle junge Dame seien, die es verdient hätte, eine gute Ausbildung zu erhalten.«
Sie musterte mich so gründlich, als wollte sie meine Gedanken lesen. Dann erklärte sie beinahe schon feierlich: »Wir nehmen in jedem Jahr nur eine begrenzte Zahl von Schülerinnen auf. Schulmeister Hansen ist ein sehr guter Bekannter von mir, dem ich noch einen Gefallen schuldete. Wenn er diesen Gefallen mit Ihrer Aufnahme einfordert, sollten Sie alles daran setzen, ihm keine Schande zu machen.«
»Ich werde mir Mühe geben, Frau Habermann.«
Mit gesenktem Kopf blieb ich stehen, bis die Rektorin nach erneuter Musterung zum Vorhang schritt und eine Glocke läutete. Nicht der Hausmeister erschien, sondern ein blasses, schmales Mädchen in Diensttracht.
»Führe Fräulein Blumfeld in den Schlafsaal und zeige ihr das Bett, das wir für sie vorbereitet haben. Anschließend begleitest du sie zu den Unterrichtsräumen.«
»Sehr wohl, Frau Rektorin.«
»Ihr Unterricht beginnt morgen pünktlich um acht Uhr. Auf Ihrem Zimmer finden Sie eine Stundentafel und Ihre Bücher. Weitere Bücher erhalten Sie in unserer Bibliothek.« Jetzt schlich sich doch ein Lächeln auf ihre strenge Miene. »Willkommen an unserem Institut, Fräulein Blumfeld.«
26. Kapitel
Am nächsten Morgen kam Carter ihr schon an der Schultür entgegen, mit frisch gewaschenem Gesicht und neuer Jacke, die er wohl von Isbel erhalten hatte.
»Oh, Miss Blumfeld. Ich dachte nicht, dass Sie so früh …«
Hatte er sich wirklich davonschleichen wollen, ohne sich zu verabschieden? Marie spürte die Enttäuschung,
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