Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
schließlich vor der Tür des Raumes stand, der eines Tages ein Kabinett für Geografie werden sollte. Einige alte Landkarten standen dort bereits herum, doch außer ihnen gab es nur eine ausgemusterte Schulbank und einen alten Schrank.
»Gemütlich«, bemerkte Philipp sarkastisch.
»Jedenfalls besser, als von Schlägern bedroht auf der Straße zu schlafen. Ich hole Ihnen eine Decke.«
»Miss Blumfeld?«
Marie fuhr erschrocken herum.
Isbel, der in der Tür aufgetaucht war, zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Wen haben Sie denn da mitgebracht?«
»Das ist Philipp Carter. Mr Carter, darf ich vorstellen: James Isbel, der Leiter der Schule.«
Da Isbel keine Anstalten machte, ihm die Hand zu reichen, nickte Philipp ihm einfach nur zu.
»Ich wollte Ihnen gerade Bescheid sagen, oder besser gesagt, Sie fragen …«
»Was ist geschehen?« Isbels Miene verfinsterte sich, als er die Blutflecken auf Carters Kleidern sah.
»Jemand hat ihn verprügelt«, antwortete Marie für ihn. »Im Pub.«
»Und wieso bringen Sie ihn hierher?«
»Ich kann auch wieder gehen«, wandte Philipp schnell ein, doch Marie hielt ihn am Ärmel zurück.
»Mr Isbel, dieser Mann ist für seine Überzeugungen angegriffen worden. Er hat jemandem Widerworte gegeben, der gegen die Indianer gewettert hat. In der Stadt ist es nicht sicher für ihn.«
»Also gut!«, sagte Isbel nach kurzem Überlegen. »Bleiben Sie heute Nacht hier. Ich werde Ihnen ein paar Decken bringen. Aber ich warne Sie, machen Sie hier ja keinen neuen Ärger.«
»Nein, Sir, von Ärger habe ich für heute genug.«
Isbel nickte Marie zu, dann verschwand er im Gang.
»Er ist nicht sonderlich begeistert.«
»Er kennt Sie nicht und fühlt sich für die Schule verantwortlich. Immerhin sollen hier morgen wieder Kinder unterrichtet werden.«
Carter nickte. »Verständlich.«
»Ich hole Ihnen etwas Wasser, damit Sie sich waschen können. Haben Sie Hunger?«
»Nein, nicht wirklich. Das Teufelszeug des Docs steckt mir immer noch in den Knochen. Aber Wasser zum Trinken wäre nicht schlecht.«
Lächelnd erhob sich Marie und verließ das Klassenzimmer. Auf halbem Weg kam ihr Isbel mit zwei Decken auf dem Arm entgegen.
»Sind Sie sicher, dass er keinen Ärger macht?«, flüsterte er Marie zu. »Immerhin wäre es möglich, dass der Kerl, der ihn verprügelt hat, nach ihm sucht.«
»Das glaube ich nicht, Sir«, entgegnete Marie. »Der Kerl war plötzlich verschwunden. Wenn er nachtragend gewesen wäre, hätte er uns sicher neben der Arztpraxis aufgelauert. Außerdem würde ich für Mr Carter meine Hand ins Feuer legen. Er war einer der Männer, die mich nach Selkirk gebracht haben.«
»In Ordnung, dann soll er hierbleiben. Wo ist man vor Banditen sicherer als in einer Schule.«
»Etwas Ähnliches habe ich auch gesagt. Vielen Dank, Mr Isbel.«
Isbel lächelte ihr breit zu, dann brachte er Philipp die Decken.
Als Marie nach Hause kam, war es ihr egal, ob Rose ihr auflauerte oder Stella ihr Vorhaltungen machen würde. Vollkommen erledigt schleppte sie sich die Treppe hinauf. Was für ein Tag!
Das einzig Gute daran war, dass sie Philipp wiedergesehen hatte, wenngleich die Umstände schrecklich waren. Jetzt hatte er hoffentlich eine angenehme Nacht. Was aus ihm werden sollte, wusste Marie nicht. In der Stadt konnte er sicher nicht bleiben, aber alles in ihr sträubte sich dagegen, ihn wieder ziehen zu lassen. Warum? Sie hatte keine Ahnung.
Auf ihrem Zimmer entledigte sie sich rasch ihres Kleides, das sie mittlerweile als vom ersten Lohn gekauft ausgab. Eigentlich hätte sie sich bei Stella blicken lassen müssen, aber dazu wählte sie das dunkle Kleid, das sie bei den Woodburys getragen hatte. Natürlich hatte Stella gegen das grelle Blau protestiert und erst eingelenkt, als Marie erklärt hatte, diese Farbe hätte eine positive Auswirkung auf die Schüler, die dadurch wesentlich ruhiger und gesitteter seien.
Als sie umgezogen war, betrachtete sie sich im Spiegel. Warum lege ich mich nicht einfach ins Bett und mache ein Nickerchen?, dachte sie. Nach einem Tag wie diesem habe ich mir das verdient.
Aber die Vernunft brachte sie dann doch dazu, nach unten zu gehen.
»Marie!«
Stellas Ruf ließ Marie zusammenfahren.
»Guten Abend, Auntie«, entgegnete sie. »Ich bin gerade zurückgekommen und wollte mich nur schnell umziehen, bevor …«
»Komm bitte mit in den Salon!«, herrschte Stella sie an, dann rauschte sie voran. Vor dem kleinen Glastisch, auf dem zwei Kaffeetassen
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