Das Lied des Achill
fallen.
Ich schlage mit dem Kopf auf, bekomme keine Luft mehr. Verschwommene Gestalten beugen sich über mich. Sind mir unsere Männer zu Hilfe gekommen? Dann spüre ich einen kühlen Hauch auf der schweißnassen Stirn. Man hat mir den Helm abgenommen. Ich sehe ihn neben mir am Boden liegen, umgedreht wie ein leeres Schneckenhaus. Auch mein Rüstzeug fällt von mir ab, von Achill angelegt und nun von einem Gott gelöst.
Durch die eisige Stille gellen wütende Schreie. Mit Schrecken wird mir bewusst: Ich bin unbewaffnet und dem Feind ausgeliefert. Man wird mich als Patroklos erkennen.
Ich raffe mich auf, renne los. Eine Speerspitze streift meine Wade und reißt einen Schlitz in die Haut. Einer Hand, die nach mir greift, kann ich noch ausweichen, aber schon sehe ich einen Speerträger vor mir, der mit seiner Waffe auf mein Gesicht zielt. Sie schwirrt über meinen geduckten Kopf hinweg und fährt durch meine Haare wie eine zärtliche Hand. Über eine lange Lanze, die vor meinen Füßen im Gras einschlägt, springe ich hinweg, und dass ich nicht schon tot bin, verblüfft mich selbst am meisten. So schnell bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.
Der Speer, den ich nicht kommen sehe, bohrt sich mir von hinten durch den Rücken und bricht vorn unter dem Rippenbogen hervor. Von der Wucht des Stoßes zu Fall gebracht, stürze ich der Länge nach zu Boden und spüre, wie sich die Speerspitze zurück in den Bauch schiebt. Ich glaube, ich schreie.
Das Blut rinnt mir durch die Finger ins Gras. Die Menge, die sich um mich geschart hat, teilt sich, und ich sehe einen Mann auf mich zukommen. Er steigt, wie es scheint, aus weiter Ferne zu mir herab, als läge ich in einer tiefen Schlucht. Ich kenne ihn. Seine Hüftknochen erinnern mich an Tempelgesims. Seine Stirn ist stark gefurcht. Ohne auf die Männer zu achten, die ihn umschwirren, schreitet er über das Feld. Er kommt, um mir den Todesstoß zu versetzen. Hektor .
Ich hechle und glaube, mit jedem Atemzug im Inneren weiter aufzureißen. Trommelschlägen gleich dröhnen mir Erinnerungen durch den Kopf. Er kann mich nicht töten. Er darf es nicht. Und wenn er es tut, wird Achill ihn nicht leben lassen. Dabei muss er leben, immer, und darf nie sterben, nicht einmal dann, wenn er alt ist und so welk, dass sich jeder Knochen unter seiner Haut abzeichnet. Er muss leben, geht es mir durch den Kopf, als ich kriechend vor ihm zurückzuweichen versuche, denn solange er lebt, lebt auch Achill.
Verzweifelt blicke ich in die Runde der Männer und richte mich auf den Knien auf. Bitte, krächze ich. Bitte.
Aber sie beachten mich nicht. Sie schauen auf ihren Prinzen, Priamos’ ältesten Sohn, der mit unaufhaltsamen Schritten auf mich zukommt. Schon steht er vor mir, den Speer erhoben. Ich höre nur noch das Ächzen meiner Lungen und das Rasseln von Blut und Luft darin. Die Speerspitze neigt sich über mir wie ein Krug. Und dann stürzt sie herab, ein silberner Strahl vor meinen Augen.
Nein . Meine Hände fliegen in die Höhe wie aufgescheuchte Vögel. Aber ich bin schwach wie ein Kind im Vergleich zu Hektor. Ich kann den Stoß nicht aufhalten, geschweige denn abwehren. Sinnlos auch, dass ich den Schaft noch zu packen versuche, als das Eisen schon meinen letzten Schutzschild durchdringt, dünne Haut, die nachgibt wie Papier. Die Spitze taucht ein mit brennenden Schmerzen, die mir den Atem nehmen. Mein Kopf schlägt zurück auf den Boden, und das Letzte, was ich sehe, ist Hektor, der vor mir aufragt und den Speer aus meinem Leib zerrt. Mein letzter Gedanke: Achill .
Einunddreißigstes Kapitel
A chill steht auf einer Anhöhe und beobachtet das Kampfgeschehen. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, wohl aber, dass die Griechen den Feind auf der Ebene vor sich hertreiben, zurück zur Stadt, wie von Patroklos vorhergesagt. Bald wird er zurückkehren und Agamemnon auf die Knie fallen müssen. Dann werden sie wieder glücklich sein.
Doch statt Freude macht sich ein dumpfes Gefühl breit. Vor den Toren der Stadt verdichten sich die Krieger zu einem dunklen Knoten. Ein König oder Prinz ist gefallen, und man kämpft um den Leichnam. Wer ist es? Er schirmt mit der Hand das gleißende Sonnenlicht ab, vermag aber nicht mehr zu sehen. Patroklos wird ihm berichten müssen.
Jetzt sind Einzelheiten zu erkennen. Männer kehren über den Strand zum Lager zurück. Odysseus hinkt. Menelaos trägt etwas auf seinen Armen. Ein von Gras grün gefärbter Fuß hängt herab. Unter einem Tuch treten
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