Das Lied des Achill
Vorschein.
Es war Achill, der vor mir stand. Er machte einen ernsten Eindruck und musterte mich mit seinen grünen Augen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil mir bewusst war, dass ich mich hier in der Kammer nicht aufhalten durfte.
»Ich habe dich gesucht«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, der nicht mehr als diese Worte anzuhören waren. »Du hast den Drill geschwänzt.«
Mein Gesicht lief rot an, unter das schlechte Gewissen mischte sich dumpfe Wut. Er hatte das Recht, mich zu maßregeln, doch dafür hasste ich ihn.
»Woher weißt du das? Du warst doch auch nicht auf dem Hof.«
»Dem Meister ist es aufgefallen, und er hat meinen Vater informiert.«
»Der hat dich wohl geschickt.« Ich wollte, dass er sich schämte.
»Nein, niemand hat mich geschickt.« Seine Stimme klang unaufgeregt, doch seine Miene verriet etwas anderes. »Ich habe das Gespräch der beiden belauscht und bin gekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
Ich antwortete nicht. Er musterte mich immer noch.
»Mein Vater denkt darüber nach, dich zu bestrafen«, sagte er.
Wir wussten beide, was damit gemeint war. Strafe bedeutete körperliche Züchtigung, meist vor aller Augen. Ein Prinz musste nicht fürchten, ausgepeitscht zu werden, aber ich war kein Prinz mehr.
»Bist du krank?«, fragte er.
»Nein.«
»Dann kommt das als Entschuldigung nicht in Frage.«
»Wie bitte?« Vor lauter Angst konnte ich ihm nicht folgen.
»Als Entschuldigung, den Drill geschwänzt zu haben.« Er schien die Geduld zu verlieren. »Um der Strafe zu entgehen. Was wirst du sagen?«
»Ich weiß nicht.«
»Du musst aber etwas sagen.«
Seine Beharrlichkeit machte mich noch wütender. »Du bist der Prinz«, platzte es aus mir heraus.
Er zeigte sich überrascht und neigte den Kopf wie ein neugieriger Vogel zur Seite. »Und?«
»Sprich du mit deinem Vater und sag ihm, wir wären zusammen gewesen. Das wird er entschuldigen.« Was so beherzt klang, war eher Ausdruck meiner Verlegenheit. Hätte ich mich vor meinem Vater für einen anderen Jungen stark gemacht, wäre dieser trotzdem ausgepeitscht worden. Aber ich war nicht Achill.
Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Furche. »Mir gefällt es nicht, zu lügen«, entgegnete er.
So viel Anständigkeit wurde von anderen Jungen meist verlacht, und wer noch anständig war, gab es nicht offen zu.
»Lass mich an deinem Unterricht teilnehmen«, sagte ich. »Dann müsstest du nicht lügen.«
Er zog die Stirn in Falten und war so still wie ein alarmiertes Tier, das den Geräuschen seines Jägers lauschte. Unwillkürlich hielt ich die Luft an.
Plötzlich entspannte sich sein Gesicht wieder. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
»Komm mit«, sagte er.
»Wohin?« Ich war argwöhnisch. Womöglich sollte ich nun dafür bestraft werden, dass ich ihm zu lügen vorgeschlagen hatte.
»Zu meinem Leierunterricht. Damit ich, wie du sagst, nicht lügen muss. Anschließend sprechen wir mit meinem Vater.«
»Jetzt?«
»Ja. Warum nicht?« Er sah mich fragend an. Warum nicht?
Als ich aufstand, um ihm zu folgen, taten mir die Beine weh, weil ich so lange auf dem kalten Steinboden gehockt hatte. In meiner Brust kribbelte etwas, das ich nicht benennen konnte. Furcht und Hoffnung, beides zugleich.
Wortlos gingen wir durch die langen Flure und gelangten schließlich in einen kleinen Raum, in dem sich nur eine Truhe und ein paar Stühle befanden. Achill deutete auf einen davon. Es war ein mit Leder überspannter Holzrahmen auf Beinen – ein Schemel, wie ihn fahrende Musikanten mit sich führten.
Er öffnete die Truhe, holte eine Leier daraus hervor und reichte sie mir.
»Ich kann darauf nicht spielen«, sagte ich.
Wieder krauste er die Stirn. »Hast du es nie versucht?«
Seltsamerweise verspürte ich den Wunsch, ihn nicht zu enttäuschen. »Mein Vater mag keine Musik.«
»Na und? Er ist doch nicht hier.«
Ich nahm das Instrument entgegen. Es war dasjenige, mit dem ich ihn am Tag meiner Ankunft gesehen hatte. Ich ließ die Finger über die Saiten streichen und hörte ein dumpfes Summen. Achill holte eine zweite Leier aus der Truhe hervor und setzte sich neben mich.
Er platzierte sie auf seine Knie. Die Holzarme waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert und vergoldet. Es war das Instrument meiner Mutter, das mir mein Vater als Teil des Entgelts für meine Aufnahme an Peleus’ Hof mitgegeben hatte.
Achill zupfte an einer Saite und ließ einen wunderschönen Ton erklingen, warm und anhaltend. Meine Mutter war
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